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Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Hrsg.]
Jahrbuch ... / Heidelberger Akademie der Wissenschaften: Jahrbuch 2009 — 2010

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III. Förderung des wissenschaftlichen Nachwuchses
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B. Das WIN-Kolleg
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3. Forschungsschwerpunkt "Der menschliche Lebenszyklus - biologische, gesellschaftliche, kulturelle Aspekte"
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https://doi.org/10.11588/diglit.66333#0283
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Das WIN-Kolleg | 299

Das Problem der Messbarkeit des Lebens und vor allem das durch die Unvor-
hersehbarkeit des Todes nicht genau in seiner Dauer spezifizierte letzte Lebensalter
wurden in den behandelten Texten oftmals als Ausgangspunkt für Reflexionen über
die Ordnung des Lebensverlaufs identifiziert. Es konnte gezeigt werden, wie die
Alterszäsuren mitunter durchaus explizit markieren, dass jede Sequenzierung des
Lebensverlaufs der kulturellen oder künstlerischen Modellierung unterliegt, dass sug-
gerierter Normalverlauf eines Lebens und charakteristische Abweichung im persön-
lichen Lebenslauf spannungsvoll korreliert werden können. Einerseits bestätigte sich
die Alterszäsur als wirkmächtige Wissensordnung, andererseits konnte herausgearbei-
tet werden, wie diese Ordnung in der historischen Zusammenschau nicht nur in
ihrer Persistenz, sondern auch in ihrem Wandel diskursiviert wird. Die zeitliche
Grenze, an dem ein Lebenszustand in einen anderen übergeht, bietet somit nicht nur
ein formales Gliederungsinstrument zur sequentiellen Ordnung eines individuellen
Lebenszeitkontinuums; die Zäsur ist in der konkreten Unterscheidung von Vorher
und Nachher eine Möglichkeit, das Leben narrativ zugänglich zu machen. Indem sie
das soziale und kulturelle Wissen über die menschliche Lebenszeit bündelt und
strukturiert, wird sie für eine Erzählinstanz zugleich zum Katalysator einer Reflexi-
on über das eigene Leben und die gesellschaftlich-kulturell geprägten Normzu-
schreibungen für die verschiedenen Altersstufen.
Mit der Basis eines philologischen Zugriffs auf historische Quellen und der
klaren Perspektive auf die Zäsurierung und Verzeitlichung menschlichen Lebens
ergab sich auf der Tagung ein reger Austausch zwischen den Disziplinen, der sich
systematischen Aspekten wie spezifischen Einzelstudien widmete. Die Alterszäsuren
wurden als zentraler Ordnungsbegriff bestätigt, um die Lebensalter in ihrer ästheti-
schen Signatur und religiösen Bedeutung zu erschließen. Einen ersten Einblick in
die Thematik der Tagung können die Beiträge der Kollegiaten geben:
Die Wahrnehmung der eigenen Lebenszeit und der Phase des hohen Alters
untersuchte Kathrin Liess (Tübingen) am Beispiel der Psalmen. Die Psalmengruppe
90-92 lässt sich auf der synchronen Textebene als psalmentheologischer Diskurs über
Vergänglichkeit, lange Lebenszeit und Alter lesen, indem die Klage über die mensch-
liche Vergänglichkeit (Psalm 90) eine Antwort in der Zuversicht auf eine erfüllte
Lebenszeit in Gottes Nähe (Psalm 91) und ein hohes Alter voller Lebenskraft (Psalm
92) findet. Der positiven Sichtweise auf das hohe Alter in Psalm 92 stellt Psalm 71
ein ganz anderes Bild gegenüber, wenn er vom Schwinden der menschlichen
Lebenskraft im hohen Alter spricht. Dieser Psalm ist der einzige Psalm, der verschie-
dene Lebensphasen thematisiert und diese zugleich mit einer spannungsvollen Dyna-
mik von Gottesnähe und Gottesferne verbindet: den Lebensbeginn als Beginn auch
der Gottesbeziehung, Kindheit und Jugend als Zeit des Gottvertrauens und der gött-
lichen Erziehung, das hohe Alter als Zeit drohender Gottverlassenheit. Ausgehend
von einem Grundkonzept der Psalmenanthropologie, dem „konstellativen Perso-
nenbegriff4, lässt sich der menschliche Alterungsprozess in Psalm 71 auf drei Bezie-
hungsebenen (Selbstbezug - Weltbezug - Gottesbezug) beschreiben: Körperlicher
Verfall, soziale Isolation und Gottverlassenheit stellen die negativen Seiten des hohen
Alters dar. Dem stellt der Psalm die integrative Kraft des Gotteslobs gegenüber, durch
 
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