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Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Hrsg.]
Jahrbuch ... / Heidelberger Akademie der Wissenschaften: Jahrbuch 2009 — 2010

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IV. Veranstaltungen im Jubiläumsjahr
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Maissen, Thomas: Symposium "Natürliche Zeit - kulturelle Zeit?"
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https://doi.org/10.11588/diglit.66333#0399
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13. und 14. November 2009 | 415

Die Verbindung von linearer und zyklischer Zeit findet sich auch in Indien, wo
vier Zeitalter im Rahmen einer Deszendenztheorie aufeinander folgen und nach der
letzten die Zerstörung der Welt und eine Zeit, in der Brahma ruht, bevor er eine
neue Welt mit demselben Zyklus schafft. Auch wenn es reflektierte Geschichts-
schreibung in Form von Chroniken und Inschriften gab, so bedeute dies für den
Inder, wie Axel Michaels (Heidelberg) ausführte, dass sie sich nicht auf das Streben
und Vergehen in der Zeit ausrichten sollen, sondern auf Dauer und Zeitlosigkeit in
der ewigen Wiederkehr. In diesem religiösen Zeitverständnis steht die Statik der Zeit
im Vordergrund, die Gleichheit in der Wiederkehr der Ereignisse, ihre Unermessbar-
keit oder allenfalls mythische Teilbarkeit. Ausgehend von buddhistischen Felsin-
schriften fragte sich Lothar Ledderose (Heidelberg) anschließend, weshalb die mit
Buddhas Todesjahr datierende, lineare, religiöse Zeitrechnung in China politisch
nicht genehm war. In ihrer teleologischen Ausrichtung auf eine katastrophale End-
zeit war sie für die chinesischen Kaiser unattraktiv, die stattdessen eine recht kom-
plizierte, aber repetitive säkulare Zeitrechnung aus kombinierten Zyklen benutzten.
Thomas Maissen (Heidelberg) stellte die moderne Geschichtswissenschaft als
eine Bewältigungsstrategie für die dauernde und stets beschleunigte Konfrontation
mit Neuem vor. Ausdruck findet sie in der einen Weltzeit, die 1884 an der interna-
tionalen Meridiankonferenz in Washington fixiert wurde, aber im christlichen
Abendland in einem langen Prozess entstand, in dem die Weihnachtsgeschichte einen
doppelten Nullpunkt bildete: in der Heilsgeschichte Christi und in der weltlichen
Herrschaft des Augustus. Parallel zur Säkularisierung der Zeitvorstellungen wurden
die Techniken und Einheiten der Zeitmessungen verfeinert: Schon im Mittelalter
führte dies von mönchischen Gebetsstunden über Glocken zu Uhren mit mechani-
schem Räderwerk und damit gleichmäßigen Aquinoktial- statt je nach Tageslänge
variierenden Temporalstunden. Das war Voraussetzung nicht zuletzt für die Ökono-
misierung der Zeit, indem die in Stunden (und nicht im Produkt) bemessene Arbeit
jede Tätigkeit in der arbeitsteiligen Gesellschaft vergleichbar und verhandelbar
macht. Das Zeitverständnis in der Ökonomie bezeichnete Ernst-Ludwig von Thad-
den (Mannheim) als quantifizierte erlebte Zeit und damit als Hybrid zwischen kul-
tureller Zeit und natürlicher Zeit. Die qualitative Zeit im Sinne des McTaggartschen
Zeitpfeils bedarf in dieser Interpretation für den analytischen Gebrauch in der Öko-
nomik der Normierung, um Konsum- und Produktionsprozesse vergleichbar zu
machen. An Beispielen aus der Produktions- und Konsumtheorie führte von Thad-
den aus, wie sich im Sinne von I. Fisher aus dieser Vergleichung der Zins als Preis der
ökonomischen Zeit ergibt.
Anton Friedrich Koch (Heidelberg) verstand in seinem philosophischen Bei-
trag den Pfeil der Zeit als Produkt der menschlichen Willensfreiheit. Weil sich in der
Natur freie Akteure entwickelt haben, habe die Zeit einen „Pfeil“, und zwar nun
auch rückwirkend für den Zeitraum, als es noch keine freien Wesen gab, und vor-
greifend für die Zeit, wenn es keine freien Wesen mehr geben wird. Offen blieb, ob
diese Freiheitstheorie des Zeitpfeils auch für Fragen der moralischen Verantwortung
fruchtbar gemacht werden kann. Dieser dynamischen Konzeption stellte Ernst A.
Schmidt (Tübingen) Platons Theorie der Zeit als ruhigen Seelentätigkeit gegenüber
 
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