Divinatorische Texte II: Opferschau-Omina
täkalti versammelt. Daß dieses Kapitel als fünftes inmitten der
die Leber behandelnden Kapitel erscheint und nicht etwa am
Ende, dürfte darauf zurückzuführen sein, daß die in diesem
Kapitel behandelten Leberteile sowohl auf dem Lobus sinister
als auch auf den anderen Lobi erscheinen und somit die Reihen-
folge der untersuchten Leberteile die Kapitelreihenfolge vorgab.
Das achte Kapitel stellt insofern einen Sonderfall dar, als es
nicht einem normalerweise erscheinenden Teil der Leber gewid-
met ist, sondern einer besonderen, in Jean Nougayrols Termino-
logie „zufälligen Markierung“, der „Keule“. Ihre besondere Be-
deutung zeigt sich darin, daß ihr in der bärütu-Serie ein eigenes
Kapitel gewidmet ist. Die Plazierung des Kapitels zwischen den
Beobachtungen zur Leber und zur Lunge ist auch deshalb sehr
passend, weil die Keule auf beiden Organen erscheint. Das
neunte Kapitel behandelt die Lunge und das zehnte und letzte
Kapitel schließlich die Deutungprinzipien der Opferschau.
Damit ergibt sich für die Anordnung der Kapitel ein logischer,
wohldurchdachter Aufbau.
Auch die Opferschau-Protokolle sind in erheblichem Um-
fang überliefert; die meisten stammen aus der altbabylonischen
und der neuassyrischen Zeit, aber es haben sich auch zahlreiche
mittelbabylonische Opferschau-Protokolle erhalten. 89 Während
die Opferschau-Kompendien den theoretischen Aspekt der
Opferschau repräsentieren und das überlieferte Wissen von Ge-
lehrtengenerationen bargen, verkörpern die Opferschau-
Protokolle den praktischen Aspekt der Opferschau. In den
Protokollen von tatsächlich durchgeführten Opferschauen wird
der Grund für die Durchführung, oft in Form der Anfrage selbst,
genannt und die wichtigsten Teile der Leber, sowie die Lunge
und die Anzahl der Darmwindungen betrachtet. Neben den
Protokollen gibt es in der neuassyrischen Zeit zahlreiche Belege
von Opferschau-Anfragen, die sich von den Protokollen formal
unterscheiden, und manchmal nur die Anfrage, aber nicht die
Befunde der Opferschau verzeichnen. 90 Während die altbabylo-
nischen Opferschau-Protokolle aus Mari und die neuassyrischen
Opferschau-Protokolle und -Anfragen, die sämtlich in Ninive
gefunden wurden, aus dem Bereich des Königshofes stammen
und oft politische wie militärische Aspekte betreffen, sind die
anderen altbabylonischen und die mittelbabylonischen Proto-
kolle privater Natur und illustrieren die Sorgen und Nöte von
Händlern, Beamten und Priestem, also der Stadtelite. Die Masse
der „einfachen Leute“ ohne größeren Besitz erscheint in diesen
Texten - wie auch im gesamten altorientalischen Schrifttum -
kaum.
Zwischen der theoretischen Seite der Kompendien und der
praktischen Seite der Protokolle und Anfragen stehen die nicht
wenigen Lebermodelle, die nicht nur in Babylonien und
Assyrien, sondern vor allem auch in Hattusa, Syrien und der
Levante gefunden wurden 91 Die Modelle sind Darstellungen der
Leber, auf denen Befunde eingezeichnet werden; manche von
ihnen sind beschriftet. Die Modelle dürften einerseits zu Aus-
bildungszwecken als Darstellungen von Kompendien angefer-
tigt worden sein, andererseits konnten auch wichtige Befunde
dargestellt werden und im Gegensatz zur rasch verwesenden
Leber tatsächlich von einem Ort zum anderen verbracht wer-
den 92 Neben Lebermodellen sind auch Lungen- 93 und Gedärm-
modelle 94 und sogar ein Milzmodell 95 gefunden worden. Der
Zusammenhang von Modell und Opferschau-Kompendien wird
durch ein Lungenmodell aus Kalhu sehr schön veranschaulicht,
da das Lungenmodell die dreidimensionale Darstellung der
zehnten Tafel des Kapitels summa hasü „Wenn die Lunge“ der
Opferschau-Serie bärütu ist. 96
Zahlreiche weitere Texte ermöglichen teilweise detaillierte
Einblicke in die verschiedensten Aspekte der altorientalischen
Opferschau. Hierzu gehören, wie oben schon erwähnt, die Texte
zum neuassyrischen Opferschau-Ritual, die den Ablauf des
Rituals ausführlich schildern 97 Daneben spiegeln altbabyloni-
sche Opferschau-Gebete die mit den Göttern Samas und Adad
sowie den Göttern der Nacht verbundenen Vorstellungen wider
und lassen uns so den religiös-theoretischen Hintergrund der
Opferschau verstehen 98 Im ersten vorchristlichen Jahrtausend
sind zudem tamTtu und ikribu genannte Texte belegt; erstere sind
Sammlungen von Opferschau-Anfragen an Samas und Adad,
ohne daß die Opferschau protokolliert oder nur das Ergebnis
notiert würde, 99 letztere sind Gebete an Samas und Adad, die im
Verlauf des Opferschau-Rituals gesprochen wurden. 100
Schließlich zeugen auch zahlreiche Hinweise in
Königsinschriften und in Briefen von der Bedeutung der
Opferschau.
Die Bedeutung und Wirkung
der altorientalischen Opferschau
Die Bedeutung der Opferschau als Entscheidungshilfe für die
altorientalischen Menschen im allgemeinen und die Herrscher
im besonderen dürfte sich für das zweite und erste vorchristliche
Jahrtausend angesichts dieser Quellenlage schwerlich überschät-
zen lassen. Wie sehr sich die mesopotamischen Herrscher auf
dieses Instrument zur Absicherung von Entscheidungen stützten,
91 Zu den Lebermodellen siehe J.-W. Meyer, Untersuchungen und ders.,
RIA 6, 522-527. Eine neue Auswertung der Lebermodelle aus
Hattusa(Bogazköy) hat An de Vos in ihrer im Oktober 2009 an der
Universität Würzburg eingereichten Dissertation erarbeitet.
92 So schreibt I. Starr, Rituals 9 mit Verweis auf A. L. Oppenheim, JNES
13 (1955) 143ff., daß „the simplest way in those days of bringing pro-
blems concerning extispicies to the attention of the court or of specia-
lists in the field was, due to the lack of refrigeration, by means of
models or written reports.“
93 G. J. P. McEwan, RIA 7, 171.
94 Die Darmwindungsmodelle sind bislang nicht systematisch zusammen-
gestellt worden, siehe vorläufig E. Weidner, MVAeG 21 (1917) 191-
198 und die Bemerkungen zu VAT 9560 (Nr. 9) in der Textbearbeitung.
95 J.-W. Meyer, MARI 7 (1993) 349-354.
96 Es handelt sich um CTN IV/60, vgl. dazu auch die Bemerkungen zu
VAT 10125 (Nr. 51, KAR 428) Vs. 1-15.
97 Siehe oben S. 2 und H. Zimmern, BBR 1-25.
98 P. Steinkeller, in: A. Gianto (Hrsg.), Gs. W. L. Moran, 11-47, und siehe
auch C. Wilcke, in: C. Wilcke (Hrsg.), Das geistige Erfassen, 224-240.
99 Die tamTtu-Texte sind umfassend von W. G. Lambert, Oracle Questions
publiziert worden.
100 Zu den ikribu-Gebeten siehe H. Zimmern, BBR 75-101.
89 Zu den altbabylonischen Opferschau-Protokollen siehe zuletzt die
Zusammenstellung bei U. Koch-Westenholz, in: C. Wunsch (Hrsg.), Fs.
Chr. Walker, 132f. Die mittelassyrischen Opferschau-Protokolle hat
F. R. Kraus, JCS 37 (1985) 127-218 ausgewertet, und die neuassyri-
schen Opferschau-Protokolle und -Anfragen sind umfassend von
I. Starr, SAA IV bearbeitet worden. I. Starr, in: M. de J. Ellis (Hrsg.),
Gs. J. J. Finkelstein (1977) 201-208 hat die Unterschiede zwischen den
altbabylonischen und den neuassyrischen Opferschau-Protokollen
beschrieben. Die neuassyrischen Opferschau-Protokolle stammen fast
ausschließlich aus Ninive; in Assur wurden bislang keine Opferschau-
Protokolle gefunden.
90 Zu dem Format der neuassyrischen Opferschau-Protokolle und -Anfra-
gen siehe I. Starr, SAA IV, S. XIII-XXIX.
täkalti versammelt. Daß dieses Kapitel als fünftes inmitten der
die Leber behandelnden Kapitel erscheint und nicht etwa am
Ende, dürfte darauf zurückzuführen sein, daß die in diesem
Kapitel behandelten Leberteile sowohl auf dem Lobus sinister
als auch auf den anderen Lobi erscheinen und somit die Reihen-
folge der untersuchten Leberteile die Kapitelreihenfolge vorgab.
Das achte Kapitel stellt insofern einen Sonderfall dar, als es
nicht einem normalerweise erscheinenden Teil der Leber gewid-
met ist, sondern einer besonderen, in Jean Nougayrols Termino-
logie „zufälligen Markierung“, der „Keule“. Ihre besondere Be-
deutung zeigt sich darin, daß ihr in der bärütu-Serie ein eigenes
Kapitel gewidmet ist. Die Plazierung des Kapitels zwischen den
Beobachtungen zur Leber und zur Lunge ist auch deshalb sehr
passend, weil die Keule auf beiden Organen erscheint. Das
neunte Kapitel behandelt die Lunge und das zehnte und letzte
Kapitel schließlich die Deutungprinzipien der Opferschau.
Damit ergibt sich für die Anordnung der Kapitel ein logischer,
wohldurchdachter Aufbau.
Auch die Opferschau-Protokolle sind in erheblichem Um-
fang überliefert; die meisten stammen aus der altbabylonischen
und der neuassyrischen Zeit, aber es haben sich auch zahlreiche
mittelbabylonische Opferschau-Protokolle erhalten. 89 Während
die Opferschau-Kompendien den theoretischen Aspekt der
Opferschau repräsentieren und das überlieferte Wissen von Ge-
lehrtengenerationen bargen, verkörpern die Opferschau-
Protokolle den praktischen Aspekt der Opferschau. In den
Protokollen von tatsächlich durchgeführten Opferschauen wird
der Grund für die Durchführung, oft in Form der Anfrage selbst,
genannt und die wichtigsten Teile der Leber, sowie die Lunge
und die Anzahl der Darmwindungen betrachtet. Neben den
Protokollen gibt es in der neuassyrischen Zeit zahlreiche Belege
von Opferschau-Anfragen, die sich von den Protokollen formal
unterscheiden, und manchmal nur die Anfrage, aber nicht die
Befunde der Opferschau verzeichnen. 90 Während die altbabylo-
nischen Opferschau-Protokolle aus Mari und die neuassyrischen
Opferschau-Protokolle und -Anfragen, die sämtlich in Ninive
gefunden wurden, aus dem Bereich des Königshofes stammen
und oft politische wie militärische Aspekte betreffen, sind die
anderen altbabylonischen und die mittelbabylonischen Proto-
kolle privater Natur und illustrieren die Sorgen und Nöte von
Händlern, Beamten und Priestem, also der Stadtelite. Die Masse
der „einfachen Leute“ ohne größeren Besitz erscheint in diesen
Texten - wie auch im gesamten altorientalischen Schrifttum -
kaum.
Zwischen der theoretischen Seite der Kompendien und der
praktischen Seite der Protokolle und Anfragen stehen die nicht
wenigen Lebermodelle, die nicht nur in Babylonien und
Assyrien, sondern vor allem auch in Hattusa, Syrien und der
Levante gefunden wurden 91 Die Modelle sind Darstellungen der
Leber, auf denen Befunde eingezeichnet werden; manche von
ihnen sind beschriftet. Die Modelle dürften einerseits zu Aus-
bildungszwecken als Darstellungen von Kompendien angefer-
tigt worden sein, andererseits konnten auch wichtige Befunde
dargestellt werden und im Gegensatz zur rasch verwesenden
Leber tatsächlich von einem Ort zum anderen verbracht wer-
den 92 Neben Lebermodellen sind auch Lungen- 93 und Gedärm-
modelle 94 und sogar ein Milzmodell 95 gefunden worden. Der
Zusammenhang von Modell und Opferschau-Kompendien wird
durch ein Lungenmodell aus Kalhu sehr schön veranschaulicht,
da das Lungenmodell die dreidimensionale Darstellung der
zehnten Tafel des Kapitels summa hasü „Wenn die Lunge“ der
Opferschau-Serie bärütu ist. 96
Zahlreiche weitere Texte ermöglichen teilweise detaillierte
Einblicke in die verschiedensten Aspekte der altorientalischen
Opferschau. Hierzu gehören, wie oben schon erwähnt, die Texte
zum neuassyrischen Opferschau-Ritual, die den Ablauf des
Rituals ausführlich schildern 97 Daneben spiegeln altbabyloni-
sche Opferschau-Gebete die mit den Göttern Samas und Adad
sowie den Göttern der Nacht verbundenen Vorstellungen wider
und lassen uns so den religiös-theoretischen Hintergrund der
Opferschau verstehen 98 Im ersten vorchristlichen Jahrtausend
sind zudem tamTtu und ikribu genannte Texte belegt; erstere sind
Sammlungen von Opferschau-Anfragen an Samas und Adad,
ohne daß die Opferschau protokolliert oder nur das Ergebnis
notiert würde, 99 letztere sind Gebete an Samas und Adad, die im
Verlauf des Opferschau-Rituals gesprochen wurden. 100
Schließlich zeugen auch zahlreiche Hinweise in
Königsinschriften und in Briefen von der Bedeutung der
Opferschau.
Die Bedeutung und Wirkung
der altorientalischen Opferschau
Die Bedeutung der Opferschau als Entscheidungshilfe für die
altorientalischen Menschen im allgemeinen und die Herrscher
im besonderen dürfte sich für das zweite und erste vorchristliche
Jahrtausend angesichts dieser Quellenlage schwerlich überschät-
zen lassen. Wie sehr sich die mesopotamischen Herrscher auf
dieses Instrument zur Absicherung von Entscheidungen stützten,
91 Zu den Lebermodellen siehe J.-W. Meyer, Untersuchungen und ders.,
RIA 6, 522-527. Eine neue Auswertung der Lebermodelle aus
Hattusa(Bogazköy) hat An de Vos in ihrer im Oktober 2009 an der
Universität Würzburg eingereichten Dissertation erarbeitet.
92 So schreibt I. Starr, Rituals 9 mit Verweis auf A. L. Oppenheim, JNES
13 (1955) 143ff., daß „the simplest way in those days of bringing pro-
blems concerning extispicies to the attention of the court or of specia-
lists in the field was, due to the lack of refrigeration, by means of
models or written reports.“
93 G. J. P. McEwan, RIA 7, 171.
94 Die Darmwindungsmodelle sind bislang nicht systematisch zusammen-
gestellt worden, siehe vorläufig E. Weidner, MVAeG 21 (1917) 191-
198 und die Bemerkungen zu VAT 9560 (Nr. 9) in der Textbearbeitung.
95 J.-W. Meyer, MARI 7 (1993) 349-354.
96 Es handelt sich um CTN IV/60, vgl. dazu auch die Bemerkungen zu
VAT 10125 (Nr. 51, KAR 428) Vs. 1-15.
97 Siehe oben S. 2 und H. Zimmern, BBR 1-25.
98 P. Steinkeller, in: A. Gianto (Hrsg.), Gs. W. L. Moran, 11-47, und siehe
auch C. Wilcke, in: C. Wilcke (Hrsg.), Das geistige Erfassen, 224-240.
99 Die tamTtu-Texte sind umfassend von W. G. Lambert, Oracle Questions
publiziert worden.
100 Zu den ikribu-Gebeten siehe H. Zimmern, BBR 75-101.
89 Zu den altbabylonischen Opferschau-Protokollen siehe zuletzt die
Zusammenstellung bei U. Koch-Westenholz, in: C. Wunsch (Hrsg.), Fs.
Chr. Walker, 132f. Die mittelassyrischen Opferschau-Protokolle hat
F. R. Kraus, JCS 37 (1985) 127-218 ausgewertet, und die neuassyri-
schen Opferschau-Protokolle und -Anfragen sind umfassend von
I. Starr, SAA IV bearbeitet worden. I. Starr, in: M. de J. Ellis (Hrsg.),
Gs. J. J. Finkelstein (1977) 201-208 hat die Unterschiede zwischen den
altbabylonischen und den neuassyrischen Opferschau-Protokollen
beschrieben. Die neuassyrischen Opferschau-Protokolle stammen fast
ausschließlich aus Ninive; in Assur wurden bislang keine Opferschau-
Protokolle gefunden.
90 Zu dem Format der neuassyrischen Opferschau-Protokolle und -Anfra-
gen siehe I. Starr, SAA IV, S. XIII-XXIX.