XX
Einleitung des Herausgebers
Jahrzehnten von der Kirche getrennt. Die mehrheitlich protestantische, auch in Glau-
bensfragen liberal denkende Lehrerschaft weigerte sich, ihrem Unterricht Luthers
Katechismus zugrunde zu legen.58 So war auch die Unterweisung in biblischer Ge-
schichte, die Jaspers in der Vorschule erhalten hatte, keine katechetische Christen-
lehre. Der christliche Glaube spielte dort ebenso wenig eine Rolle wie im Elternhaus,
in dem alles Christliche bewusst, aber ohne Polemik ignoriert wurde. Weder Vater
noch Mutter lehrten Jaspers beten, von Gott wurde nicht gesprochen. Zwar ließ er sich
aus gesellschaftlichen Gründen konfirmieren, doch erlebte er den Konfirmandenun-
terricht als äußerlich und unglaubwürdig.59
Trotz, vielleicht aber auch gerade wegen dieser kirchenfernen Herkunft war der »Ur-
sprung, aus dem wir leben«, in der Familie gegenwärtig. Jaspers und seine beiden Ge-
schwister wuchsen mit einem Grundvertrauen ins Leben auf, durchdrungen von dem
Gefühl, in einem sinnvollen Ganzen, wo alles mit allem zusammenhing, geborgen zu
sein. Das nüchterne Wesen des Vaters schärfte das Bewusstsein für den Unterschied
zwischen dem Menschenmöglichen und dem Unabänderlichen. Jaspers lernte von
ihm, ein selbständiges Urteil auszubilden: kritische Fragen zu stellen, wo sie ange-
bracht waren, aber die Dinge hinzunehmen, wenn sie die Grenze vernünftiger Ein-
sicht überstiegen. Der Vater verkörperte den »Anspruch uneingeschränkter Wahrhaf-
tigkeit« im Sinne eines »Wahrheitswillens, der auf unbefangene Prüfung der letzten
Grundsätze und Wirklichkeiten ging«.60 Sein Leben führte er nach den »Prinzipien der
Vernunft«61 und aus einem »Glauben an Naturwissenschaft als einer Erkenntnis, auf
die das vernünftige Handeln zu gründen sei«,62 und doch war er »noch anderswo zu
Hause«.63 Was ihm an Wärme und Güte fehlen mochte, wurde durch die Mutter mehr
als kompensiert. Sie war »die Kraft, die alles trug«,64 und knüpfte in ihrer »alles beja-
henden Weise«65 das die Familie verbindende Band. »War sie da, hatten wir ein Sicher-
heitsgefühl, das von keinem Mißtrauen und keiner Angst bedroht war.«66 Die Briefe,
die sie später Karl und Gertrud Jaspers nach Heidelberg schrieb, zeigen eine Frau mit
einer säkularen, unbeschwert sich äußernden Frömmigkeit. Kaum ein Brief, in dem
ein »Gott Lob« oder »Gott Dank« fehlte, ob es nun um die Gesundheit eines Familien-
mitglieds oder um eine gute Ernte ging. Das war mehr als bloße Floskel oder nichtssa-
58 Vgl. R. Schäfer: »Der philosophische Glaube von Karl Jaspers und seine oldenburgischen Wur-
zeln«, in: R. Schulz u.a. (Hg.): »Wahrheit ist, was uns verbindet«. Karl Jaspers’ Kunst zu philosophie-
ren, Göttingen 2009,27-41, hier: 40.
59 Vgl. K. Jaspers: »Elternhaus und Kindheit«, 84-85; Philosophische Autobiographie, 112.
60 K. Jaspers: »Elternhaus und Kindheit«, 84 u. 90.
61 Ebd., 85.
62 Ebd., 107.
63 Ebd., 105.
64 Ebd., 75.
65 Ebd., 76.
66 Ebd., 75.
Einleitung des Herausgebers
Jahrzehnten von der Kirche getrennt. Die mehrheitlich protestantische, auch in Glau-
bensfragen liberal denkende Lehrerschaft weigerte sich, ihrem Unterricht Luthers
Katechismus zugrunde zu legen.58 So war auch die Unterweisung in biblischer Ge-
schichte, die Jaspers in der Vorschule erhalten hatte, keine katechetische Christen-
lehre. Der christliche Glaube spielte dort ebenso wenig eine Rolle wie im Elternhaus,
in dem alles Christliche bewusst, aber ohne Polemik ignoriert wurde. Weder Vater
noch Mutter lehrten Jaspers beten, von Gott wurde nicht gesprochen. Zwar ließ er sich
aus gesellschaftlichen Gründen konfirmieren, doch erlebte er den Konfirmandenun-
terricht als äußerlich und unglaubwürdig.59
Trotz, vielleicht aber auch gerade wegen dieser kirchenfernen Herkunft war der »Ur-
sprung, aus dem wir leben«, in der Familie gegenwärtig. Jaspers und seine beiden Ge-
schwister wuchsen mit einem Grundvertrauen ins Leben auf, durchdrungen von dem
Gefühl, in einem sinnvollen Ganzen, wo alles mit allem zusammenhing, geborgen zu
sein. Das nüchterne Wesen des Vaters schärfte das Bewusstsein für den Unterschied
zwischen dem Menschenmöglichen und dem Unabänderlichen. Jaspers lernte von
ihm, ein selbständiges Urteil auszubilden: kritische Fragen zu stellen, wo sie ange-
bracht waren, aber die Dinge hinzunehmen, wenn sie die Grenze vernünftiger Ein-
sicht überstiegen. Der Vater verkörperte den »Anspruch uneingeschränkter Wahrhaf-
tigkeit« im Sinne eines »Wahrheitswillens, der auf unbefangene Prüfung der letzten
Grundsätze und Wirklichkeiten ging«.60 Sein Leben führte er nach den »Prinzipien der
Vernunft«61 und aus einem »Glauben an Naturwissenschaft als einer Erkenntnis, auf
die das vernünftige Handeln zu gründen sei«,62 und doch war er »noch anderswo zu
Hause«.63 Was ihm an Wärme und Güte fehlen mochte, wurde durch die Mutter mehr
als kompensiert. Sie war »die Kraft, die alles trug«,64 und knüpfte in ihrer »alles beja-
henden Weise«65 das die Familie verbindende Band. »War sie da, hatten wir ein Sicher-
heitsgefühl, das von keinem Mißtrauen und keiner Angst bedroht war.«66 Die Briefe,
die sie später Karl und Gertrud Jaspers nach Heidelberg schrieb, zeigen eine Frau mit
einer säkularen, unbeschwert sich äußernden Frömmigkeit. Kaum ein Brief, in dem
ein »Gott Lob« oder »Gott Dank« fehlte, ob es nun um die Gesundheit eines Familien-
mitglieds oder um eine gute Ernte ging. Das war mehr als bloße Floskel oder nichtssa-
58 Vgl. R. Schäfer: »Der philosophische Glaube von Karl Jaspers und seine oldenburgischen Wur-
zeln«, in: R. Schulz u.a. (Hg.): »Wahrheit ist, was uns verbindet«. Karl Jaspers’ Kunst zu philosophie-
ren, Göttingen 2009,27-41, hier: 40.
59 Vgl. K. Jaspers: »Elternhaus und Kindheit«, 84-85; Philosophische Autobiographie, 112.
60 K. Jaspers: »Elternhaus und Kindheit«, 84 u. 90.
61 Ebd., 85.
62 Ebd., 107.
63 Ebd., 105.
64 Ebd., 75.
65 Ebd., 76.
66 Ebd., 75.