XXIV
Einleitung des Herausgebers
denz, vielleicht wieder möglich wurde. Dabei ging es Jaspers nicht um so etwas wie
Trost oder Erlösung. Wonach er strebte, war Unabhängigkeit: »Unabhängigkeit heißt,
allein von Gott und von Gott ganz abhängig zu sein«, und »hat ihre Kraft aus Gottes
Willen, der sich im Innersten des Inneren zeigen kann«.83 Im formalen Transzendie-
ren kam es darauf an, die Instrumentalisierung Gottes für Zwecke in der Welt zu über-
winden und die »Wirklichkeit Gottes« zum »Maß aller Dinge« werden zu lassen.84 Dazu
bedurfte es einer Überwindung gegenständlichen Denkens. Sie zu leisten, war Sache
der Periechontologie.
Die Lehre vom Umgreifenden entsprang der Schwierigkeit, durch Denken über alle
Gegenständlichkeit hinauskommen zu wollen, wo doch Denken nichts anderes ist als
eben dieses: Erkennen von Gegenständen. Jaspers fasste das so verstandene Denken sehr
weit. Er behielt es nicht der diskursiv-problemlösenden Einstellung in abgegrenzten Ge-
genstandsbereichen wie Wissenschaft und Technik, Recht und Moral vor. Vielmehr sah
er es bereits im intuitiv-welterschließenden Verhalten am Werk, etwa dann, wenn einen
beim Erwachen in einem Hotel »ein unklar erfülltes beängstigendes Bewußtsein« be-
fällt, bis man plötzlich in Ruhe gegenständlich denkt, »es ist ein vorbeifahrender Zug,
gestern abend sah ich ja die Schienen neben dem Hause«.85 Was hier beim Erwachen in
fremder Umgebung eigens erfahren wird, geschieht in der alltäglichen Lebenspraxis so
selbstverständlich, dass es unbemerkt bleibt: Als Erkennen von Gegenständen hebt das
Denken den Menschen aus dem bloßen Bewusstsein ins Bewusstsein überhaupt. Es ver-
schafft die Gewissheit, dass etwas sich so und nicht anders verhält, indem es aus einem
Einzelnen, nicht weiter Bestimmbaren ein Allgemeines macht. Das so Bestimmte hat
nun zeitlose Gültigkeit und festen Bestand. Es geht in die Welt der Gegenstände ein, mit
denen wir leben, und sei es nur, dass wir bei einer weiteren Nacht im Hotel am Morgen
kein undefinierbares Geräusch mehr hören, sondern einen vorbeifahrenden Zug. Weil
das Denken mit allem, was ihm begegnet, so verfährt, hat es einen schlechthin univer-
salen Charakter: »Das Denken ist das Umgreifende, das uns ins Grenzenlose erweitert:
es bringt zum Bewußtsein, was für uns ist. Es gibt für uns nichts, das nicht durch unser
Denken getroffen würde, nichts, das ohne Denken für uns Sein hätte.«86
Diese universale welterschließende Offenheit hat allerdings ihren Preis. Wenn das
Denken als Erkennen von Gegenständen tatsächlich umgreifend ist, scheint es hoff-
nungslos, über alle Gegenständlichkeit hinauskommen zu wollen. Wohin auch im-
mer man im Transzendieren gelangt, man bleibt innerhalb der gegenständlichen Welt:
»Nichts, das für uns ist, kann sich dem Gegenständlichsein entziehen. Wenn wir dar-
über hinaus dringen wollen, indem wir darüber hinaus >meinen<, so wird dadurch, was
83 K. Jaspers: Von der Wahrheit, 888.
84 Ebd., 1049.
85 Ebd., 232. - Vgl. bereits K. Jaspers: Psychologie der Weltanschauungen, 441. Das Beispiel geht zurück
auf A. Messer: Empfindung und Denken, Leipzig 31928, 45.
86 K. Jaspers: Von der Wahrheit, 225.
Einleitung des Herausgebers
denz, vielleicht wieder möglich wurde. Dabei ging es Jaspers nicht um so etwas wie
Trost oder Erlösung. Wonach er strebte, war Unabhängigkeit: »Unabhängigkeit heißt,
allein von Gott und von Gott ganz abhängig zu sein«, und »hat ihre Kraft aus Gottes
Willen, der sich im Innersten des Inneren zeigen kann«.83 Im formalen Transzendie-
ren kam es darauf an, die Instrumentalisierung Gottes für Zwecke in der Welt zu über-
winden und die »Wirklichkeit Gottes« zum »Maß aller Dinge« werden zu lassen.84 Dazu
bedurfte es einer Überwindung gegenständlichen Denkens. Sie zu leisten, war Sache
der Periechontologie.
Die Lehre vom Umgreifenden entsprang der Schwierigkeit, durch Denken über alle
Gegenständlichkeit hinauskommen zu wollen, wo doch Denken nichts anderes ist als
eben dieses: Erkennen von Gegenständen. Jaspers fasste das so verstandene Denken sehr
weit. Er behielt es nicht der diskursiv-problemlösenden Einstellung in abgegrenzten Ge-
genstandsbereichen wie Wissenschaft und Technik, Recht und Moral vor. Vielmehr sah
er es bereits im intuitiv-welterschließenden Verhalten am Werk, etwa dann, wenn einen
beim Erwachen in einem Hotel »ein unklar erfülltes beängstigendes Bewußtsein« be-
fällt, bis man plötzlich in Ruhe gegenständlich denkt, »es ist ein vorbeifahrender Zug,
gestern abend sah ich ja die Schienen neben dem Hause«.85 Was hier beim Erwachen in
fremder Umgebung eigens erfahren wird, geschieht in der alltäglichen Lebenspraxis so
selbstverständlich, dass es unbemerkt bleibt: Als Erkennen von Gegenständen hebt das
Denken den Menschen aus dem bloßen Bewusstsein ins Bewusstsein überhaupt. Es ver-
schafft die Gewissheit, dass etwas sich so und nicht anders verhält, indem es aus einem
Einzelnen, nicht weiter Bestimmbaren ein Allgemeines macht. Das so Bestimmte hat
nun zeitlose Gültigkeit und festen Bestand. Es geht in die Welt der Gegenstände ein, mit
denen wir leben, und sei es nur, dass wir bei einer weiteren Nacht im Hotel am Morgen
kein undefinierbares Geräusch mehr hören, sondern einen vorbeifahrenden Zug. Weil
das Denken mit allem, was ihm begegnet, so verfährt, hat es einen schlechthin univer-
salen Charakter: »Das Denken ist das Umgreifende, das uns ins Grenzenlose erweitert:
es bringt zum Bewußtsein, was für uns ist. Es gibt für uns nichts, das nicht durch unser
Denken getroffen würde, nichts, das ohne Denken für uns Sein hätte.«86
Diese universale welterschließende Offenheit hat allerdings ihren Preis. Wenn das
Denken als Erkennen von Gegenständen tatsächlich umgreifend ist, scheint es hoff-
nungslos, über alle Gegenständlichkeit hinauskommen zu wollen. Wohin auch im-
mer man im Transzendieren gelangt, man bleibt innerhalb der gegenständlichen Welt:
»Nichts, das für uns ist, kann sich dem Gegenständlichsein entziehen. Wenn wir dar-
über hinaus dringen wollen, indem wir darüber hinaus >meinen<, so wird dadurch, was
83 K. Jaspers: Von der Wahrheit, 888.
84 Ebd., 1049.
85 Ebd., 232. - Vgl. bereits K. Jaspers: Psychologie der Weltanschauungen, 441. Das Beispiel geht zurück
auf A. Messer: Empfindung und Denken, Leipzig 31928, 45.
86 K. Jaspers: Von der Wahrheit, 225.