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Jaspers, Karl; Weidmann, Bernd [Editor]; Fuchs, Thomas [Editor]; Halfwassen, Jens [Editor]; Schulz, Reinhard [Editor]; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Editor]; Akademie der Wissenschaften zu Göttingen [Editor]; Schwabe AG [Editor]
Karl Jaspers Gesamtausgabe (Abteilung 1, Band 13): Der philosophische Glaube angesichts der Offenbarung — Basel: Schwabe Verlag, 2016

DOI Page / Citation link: 
https://doi.org/10.11588/diglit.51323#0124
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Der philosophische Glaube angesichts der christlichen Offenbarung

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Alle historisch gegebenen Weisen, in denen das Verhältnis von Vernunft und
Glaube zuerst aufgestellt, dann durchgedacht und gelöst oder als unlösbar statuiert
wird, können nicht befriedigen. Kann man wagen, hier zu besserer Einsicht zu gelan-
gen? Die gewaltige Leistung der Theologie kann entmutigen. Sie hat ein außerordent-
lich reiches, geistig intensives, verstandesscharfes und systematisches Denken entwi-
ckelt und als Glaubenserkenntnis eine bewunderungswürdige Literatur erzeugt.
Obgleich dies nur geschehen konnte unter Aneignung der griechischen und weiter-
hin aller für sie brauchbaren späteren Philosophie, hat sie doch eigene Topoi und Bah-
nen des Denkens hervorgebracht, die wie selbstverständlich bleiben und ihren Sinn
behalten, auch wenn der Offenbarungsglaube verschwunden ist.
In den folgenden Abschnitten wird versucht, wenigstens einige Momente der bes-
seren Einsicht zu zeigen, die die Geschichte schon gezeitigt hat. Das entscheidende Ereig-
nis, das das frühere Denken nicht kennen konnte, und dessen Kunde - so wunderlich
das klingen mag - die moderne Theologie und manche Philosophie noch nicht er-
reicht hat, ist die Verwirklichung und das Bewußtsein der spezifisch modernen Wis-
senschaften. Die Einsicht in Methode, Charakter, Grenzen dieser eigentlichen Wissen-
schaften [läßt]8 die im Kampf von Glaube und Vernunft auf getretenen Schwierigkeiten
zu einem wesentlichen Teil verschwinden. Eine Unklarheit im Grunde der jahrhun-
dertelangen Diskussion über Vernunft und Glaube, Philosophie und Theologie kann
sich aufhellen und allgemeingültig begriffen werden.
Vorher noch eine Zwischenbemerkung über den mehrfachen Sinn der Rede von »christlicher
Philosophie«:
1. Wenn Philosophie und Offenbarungsglaube im Bewußtsein des Denkens nicht getrennt
sind - wie es großartig bei Augustin oder Anselm war -, so kann man in historischer Anschau-
ung solches Denken christliche Philosophie nennen. Für uns ist | es Philosophie, in die die 20
christliche Offenbarung als ein wesentlicher Grund hineingenommen wurde.
2. Wenn Philosophie und Theologie für das Bewußtsein des Denkens grundsätzlich ge-
trennt sind, wie seit Thomas von Aquino und erst recht im Bereich der neueren Philosophie,
dann nennen manche noch gewisse Gestalten scheinbar selbständig gewordener Philosophie
doch christlich.9 Aber eine solche »christliche Philosophie« ist keine eigentliche Philosophie
mehr.
Man könnte an eine Rückkehr zu den hohen Wegen des einheitlichen Denkens eines Augus-
tin, Anselm, Cusanus denken. Doch das ist in der heutigen geistigen Situation unmöglich, es
sei denn, daß der Denker von den Unumgänglichkeiten dieser Situation, besonders von dem
Sinn und der Wirklichkeit der Wissenschaften keine Kenntnis nimmt und dann nur ein roman-
tisch beschränktes, heute skurril anmutendes Denken erreicht.
Anders die durch Thomas charakterisierte Linie: Diese »christliche Philosophie« verläßt das
umgreifende Denken der Vernunft und beschränkt sich auf bloßen Verstand und Erfahrung. So
meint Thomas, daß seine Philosophie nur solche Sätze enthalte, »die mit natürlichen Mitteln
zu beweisen sind«.10 Sie meint theologische Sätze auszuschließen, greift aber fortwährend in das
Gebiet des Offenbarungsglaubens über, da dieses ganze Denken seinem Motive nach, in
Auswahl und in der Bearbeitung der Probleme, dorthin gerichtet ist.11
 
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