Metadaten

Jaspers, Karl; Weidmann, Bernd [Editor]; Fuchs, Thomas [Editor]; Halfwassen, Jens [Editor]; Schulz, Reinhard [Editor]; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Editor]; Akademie der Wissenschaften zu Göttingen [Editor]; Schwabe AG [Editor]
Karl Jaspers Gesamtausgabe (Abteilung 1, Band 13): Der philosophische Glaube angesichts der Offenbarung — Basel: Schwabe Verlag, 2016

DOI Page / Citation link: 
https://doi.org/10.11588/diglit.51323#0126
License: Free access  - all rights reserved
Overview
Facsimile
0.5
1 cm
facsimile
Scroll
OCR fulltext
Der philosophische Glaube angesichts der christlichen Offenbarung

25

Überall trat nun die Spannung auf zwischen dem unmittelbaren Genuß, der schau-
end und denkend die sich darbietende Wirklichkeit formuliert, und der Exaktheit der
Wissenschaft. Dem Forscher kam es darauf an, das wissenschaftlich Mögliche rein
herauszuarbeiten.
Diese Spannung hatte und hat bis heute ihren Grund in einem unumgänglichen
Grundtatbestand allen Forschens. Die modernen Wissenschaften sind erwachsen je in
einem von eigentümlicher philosophischer Substanz erfüllten Raum: in der weltfrom-
men hiebe zur Natur erwuchsen die Motive zu den Naturwissenschaften, in der tiefsin-
nigen Naturphilosophie der Alchimie die Chemie, in der Anschauung des Allebens die
Biologie, in dem humanistischen Bildungswillen durch geschichtliche Aneignung des
Klassischen die philologischen und historischen Wissenschaften. Überall ist die Freude
an Wirklichkeiten der Ursprung für den Willen, sie genau zu kennen und zu erkennen.
Dann aber können sich die Wissenschaften, unter Preisgabe der Spannung, von diesem
Grunde lösen. Sie werden zu Betrieb, Technik, philologischer Stoffkonsumtion. In ge-
steigerter methodischer Akribie kann ihr Sinn verloren gehen. Wo die Wissenschaften
Sinn bewahren, bleiben sie im Forscher getragen von dem, was nicht Wissenschaft, son-
dern Philosophie ist, und das er überwindet, indem er es verwandelt, nicht vernichtet.
Diese Spannung führt in jedem Erkenntnisgebiet zu eigentümlichen Schwierigkei-
ten. So in den Geisteswissenschaften: Diese bewegen sich gleichsam auf zwei wissen-
schaftlichen Ebenen. Mit dem philosophischen Humanismus erwuchs zugleich die
Philologie, die Kritik, die Feststellung historischer Realitäten, die Editionstechnik, die
Sprachforschung, das antiquarische Wissen. Dies alles wurde der wissenschaftlich
klare, unerläßliche Unterbau. Eangsamer wurde die zweite Ebene, das Sinnverstehen
| selber in seinem ganzen Umfang, zur Wissenschaft. Angewiesen auf das kongeniale 22
Dabeisein und auf das Formulierenkönnen, brachte es außerordentliche hermeneuti-
sche Teistungen, etwa in Hegel und der Romantik hervor, suchte in der historischen
Schule Wissenschaft zu werden, aber blieb noch verstrickt in willkürliche Anschauun-
gen, weil die Methoden zur Kontrolle der Richtigkeit des Verstehens und das Bewußt-
sein der Vielfachheit der Verstehensmöglichkeiten noch mangelhaft und nicht stän-
dig gegenwärtig waren. Einer der wesentlichen Schritte modernen Erkennens ist daher
die Konstituierung der sinnverstehenden Wissenschaften des Geistes durch die fakti-
sche und theoretische Klärung der bis dahin genial geübten, aber wissenschaftlich un-
klaren Methoden des Verstehens (ein Repräsentant dieses Schrittes ist Max Weber).
Das Ergebnis der letzten Jahrhunderte ist: Durch große Forscher wurde die Selb-
ständigkeit, die Unabhängigkeit, die Richtigkeit der wissenschaftlichen Erkenntnis in
dem spezifischen modernen Sinn auf allen Gebieten, also universal, erstrebt und auf
vielen erreicht, wenn auch keineswegs allgemein verwirklicht und verbreitet.
Mit dieser Verwirklichung aber wurde bedrängend fühlbar, daß die Frage nach dem
Sinn dieser Wissenschaften (warum sie sein sollen, was dazu treibt, ihnen zu dienen)
nicht durch die Wissenschaft selber beantwortet werden konnte. Die Antwort, sie sei
 
Annotationen
© Heidelberger Akademie der Wissenschaften