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Jaspers, Karl; Weidmann, Bernd [Hrsg.]; Fuchs, Thomas [Hrsg.]; Halfwassen, Jens [Hrsg.]; Schulz, Reinhard [Hrsg.]; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Hrsg.]; Akademie der Wissenschaften zu Göttingen [Hrsg.]; Schwabe AG [Hrsg.]
Karl Jaspers Gesamtausgabe (Abteilung 1, Band 13): Der philosophische Glaube angesichts der Offenbarung — Basel: Schwabe Verlag, 2016

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https://doi.org/10.11588/diglit.51323#0174
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Der philosophische Glaube angesichts der christlichen Offenbarung

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zen diese wundersamen Schönheiten sehen. Er kann an deren Tiefen schaudernd teil-
nehmen, auf eine in der Tat einzige Weise betroffen von Wahrheit sein, hingerissen
von der unvergleichlichen Reinheit Hölderlins (zumal unter Lenkung durch die ent-
deckenden Blicke Hellingraths, des im kongenialen Verstehen ebenso reinen Jüng-
lings).177 Aber die Wirklichkeit unserer Existenz verbindet sich nicht mit diesen selte-
nen Dichtern und Künstlern, wenn sie ihnen Raum gibt an der Grenze. Wer mit ihrer
Welt leben möchte, muß sich selbst betrügen entweder in ästhetischer Unverbindlich-
keit oder in künstlich gemachtem Unfug (wie es nach dem ersten Weltkrieg junge
Leute gab, die mit Hölderlin in Kapellen Mysterien feierten)?178
Philosophie kann Chiffern jeder Herkunft aneignen. Sie bringt selber in ihrer Spe-
kulation Chiffern hervor. Aber keine wahre Philosophie könnte reden, als ob es in Voll-
macht, wie aus einem Offenbarungsglauben, geschehe.
Die Weisen der Chiffern als die Formen, in denen sie ohne Unwahrheit für uns da
sein können, sind also in auf steigender Reihe: sie werden kund in ästhetischer Unver-
bindlichkeit als ein unermeßliches Reich von Bedeutungen, - wir gewinnen Teilnahme
an ihnen in der Betroffenheit, aber in der Schwebe, - sie erhellen im Augenblick der
wirklichen Situation unsere Existenz als gültige Zeichen. - Zu verwerfen aber sind die
Verwechslungen, und unter diesen die grundsätzlich entscheidende: die Realisierung
im Leibhaftigwerden der Chiffern.
Allen Chiffern gegenüber, die nicht in der völligen Unverbindlichkeit bloß zur
Kenntnis genommen werden, findet Anziehung und Abstoßung, Aneignung und Ab-
wehr statt: der Kampf im Reich der Chiffern.

| f. Der Kampf im Reich der Chiffern 72
Moses auf dem Sinai, - die Berufung der Propheten -, die Ausgießung des heiligen
Geistes -, wie die Erinyen zu Eumeniden werden -, wie die blitzschnell erscheinende
Athene dem Zorn des griechischen Helden begegnet, so daß er, vernünftig, sein schon
ergriffenes Schwert in die Scheide zurückwirft, - und unzähliges andere ist nicht be-
liebige Phantasie. Noch weniger steht es auf einer einzigen Ebene oder ist von gleicher
Kraft und Geltung.
Chiffern stehen im Kampfe. Sie treten uns ferner und näher. Manche leuchten auf
unserem Lebensweg, andere werden als fremde, dunkle, verführende Sprache verwor-
fen. Sehr viele bleiben gleichgültig.
Der äußere Kampf der religiösen Organisationen und staatlichen Glaubensmächte
ist zum Teil auch ein Kampf von Chiffern. Aber dieser selbst ist geistig, im Inneren
der Seele. Er vollzieht sich in stillen Prozessen und plötzlichen Akten. Man mag ihn
deuten durch dahinter stehende andere Mächte (des Daseins, der gemeinschaftlichen

Vgl. meine Schrift »Strindberg und van Gogh«, 1921.
 
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