72
Der philosophische Glaube angesichts der christlichen Offenbarung
erwächst die Lust an der Unverbindlichkeit, am Erscheinen aller Lebensmöglichkei-
ten, der guten wie der bösen.
Diese Unverbindlichkeit ist nur die Entartung der einzigartigen Freiheit im Spiel
des »interesselosen« Anschauens, wie sie durch Kunst und Dichtung gewährt wird.
Ohne sie bleibt der Mensch im finsteren Ernst, in der Abgeschlossenheit des Dumpfen
und der Zwecke, in der Unoffenheit seines Wesens überhaupt.
Das Spiel der Anschauung ist wahr in dem Maße, als das Gesehene zur Chiffer wird.
Dann wird alles, das Häßliche und Unheimliche der Natur und des Menschen, die Ver-
brecher für Dostojewski, das Dirnenleben für Toulouse-Lautrec zur wahren Chiffer.
Das Spiel ist unwahr in dem Maße, als es das bloße Selbstverständnis der Verwahrlo-
sung, die Frechheit des Gemeinen, das chaotische Treiben als Lust an der Verzweiflung
im Bilde vollzieht. Man spricht in der Dichtung und Kunst wohl von »Qualität«. Die-
ser vieldeutige Ausdruck deckt alles, weil er ein bloßes Können der Technik zusammen-
fallen läßt mit der Transparenz der als Chiffer geschaffenen Gestalten.
Die Verwahrlosung zu ästhetischem Genuß und dessen Ineinsfließenlassen mit der
nun gewiß nur vermeintlichen Erfahrung des Offenbarungsglaubens zeigt sich sogar
gelegentlich bei Theologen, die vom modernen Ästhetizismus sich einen Augenblick
anstecken lassen. So redet ein junger Theologe von Bekenntnisformeln der Reforma-
tionszeit als »geschliffenen Wortgebilden«, die uns »Zeichen, Chiffer, Sprache für das
eine und eigentliche sind, das aus ihnen von jeher zu sprechen versucht hat: Aussage,
Mitteilung, Sprache vom Glauben für Glauben«. Er hört die »in ihren Formeln einge-
frorene Musik«. Es ist nicht weit, dann würden auch die biblischen Offenbarungstexte
in diesem Sinne genossen werden. Es ist dieselbe Verkehrung, wie der kultisch wer-
dende Genuß von Wortgebilden und Dichtungen im modernen Snobismus.
Eigentümliche, verkannte oder irreführende, selten in der Wahrheit ihrer Größe
gesehene Erscheinungen sind Dichter und Künstler wie Hölderlin und van Gogh. Was
71 sie in den Jahren beginnender geistiger Er |krankung an der Grenze menschlicher Mög-
lichkeiten schaffen, ist eine Chiffernwelt, die anders als die der Dichter und Künstler
sonst, aber nicht weniger tief ergreift. Was sie geschaffen haben, ist etwas geistig Ob-
jektives, das als Werk und Welt besteht. Zwischen dem, was sie als Einzelne erfahren
und vollziehen, und dem, was Völker in Kultus, Mythus, Offenbarung gemeinschaft-
lich haben, ist eine Analogie, aber auch nur eine Analogie. Denn was ihnen selbst galt,
hat eine Weise der Leibhaftigkeit und eine anders als sonst verborgene Sinnhaftigkeit,
die nur auf dem Boden des geistigen Krankheitsprozesses möglich sind. Diese Kranken
bringen weder Mythus noch Offenbarung, die ihre Wirksamkeit haben in der Gemein-
schaft von Völkern. Aber sie bringen Chiffern hervor und sind selber durch ihr ganzes
Dasein ergreifende furchterregende Chiffern. Was bei ihnen nur auf dem Boden des
Wahnsinns, aber nicht allein durch den Wahnsinn möglich wird, zieht auf eine sin-
guläre Weise an. Unheimlich und glaubhaft sprechen sie aus einer Tiefe, aus der durch
sie Unsagbares sagbar wird. Wer nicht menschlich blind ist, kann nicht ohne Entset-
Der philosophische Glaube angesichts der christlichen Offenbarung
erwächst die Lust an der Unverbindlichkeit, am Erscheinen aller Lebensmöglichkei-
ten, der guten wie der bösen.
Diese Unverbindlichkeit ist nur die Entartung der einzigartigen Freiheit im Spiel
des »interesselosen« Anschauens, wie sie durch Kunst und Dichtung gewährt wird.
Ohne sie bleibt der Mensch im finsteren Ernst, in der Abgeschlossenheit des Dumpfen
und der Zwecke, in der Unoffenheit seines Wesens überhaupt.
Das Spiel der Anschauung ist wahr in dem Maße, als das Gesehene zur Chiffer wird.
Dann wird alles, das Häßliche und Unheimliche der Natur und des Menschen, die Ver-
brecher für Dostojewski, das Dirnenleben für Toulouse-Lautrec zur wahren Chiffer.
Das Spiel ist unwahr in dem Maße, als es das bloße Selbstverständnis der Verwahrlo-
sung, die Frechheit des Gemeinen, das chaotische Treiben als Lust an der Verzweiflung
im Bilde vollzieht. Man spricht in der Dichtung und Kunst wohl von »Qualität«. Die-
ser vieldeutige Ausdruck deckt alles, weil er ein bloßes Können der Technik zusammen-
fallen läßt mit der Transparenz der als Chiffer geschaffenen Gestalten.
Die Verwahrlosung zu ästhetischem Genuß und dessen Ineinsfließenlassen mit der
nun gewiß nur vermeintlichen Erfahrung des Offenbarungsglaubens zeigt sich sogar
gelegentlich bei Theologen, die vom modernen Ästhetizismus sich einen Augenblick
anstecken lassen. So redet ein junger Theologe von Bekenntnisformeln der Reforma-
tionszeit als »geschliffenen Wortgebilden«, die uns »Zeichen, Chiffer, Sprache für das
eine und eigentliche sind, das aus ihnen von jeher zu sprechen versucht hat: Aussage,
Mitteilung, Sprache vom Glauben für Glauben«. Er hört die »in ihren Formeln einge-
frorene Musik«. Es ist nicht weit, dann würden auch die biblischen Offenbarungstexte
in diesem Sinne genossen werden. Es ist dieselbe Verkehrung, wie der kultisch wer-
dende Genuß von Wortgebilden und Dichtungen im modernen Snobismus.
Eigentümliche, verkannte oder irreführende, selten in der Wahrheit ihrer Größe
gesehene Erscheinungen sind Dichter und Künstler wie Hölderlin und van Gogh. Was
71 sie in den Jahren beginnender geistiger Er |krankung an der Grenze menschlicher Mög-
lichkeiten schaffen, ist eine Chiffernwelt, die anders als die der Dichter und Künstler
sonst, aber nicht weniger tief ergreift. Was sie geschaffen haben, ist etwas geistig Ob-
jektives, das als Werk und Welt besteht. Zwischen dem, was sie als Einzelne erfahren
und vollziehen, und dem, was Völker in Kultus, Mythus, Offenbarung gemeinschaft-
lich haben, ist eine Analogie, aber auch nur eine Analogie. Denn was ihnen selbst galt,
hat eine Weise der Leibhaftigkeit und eine anders als sonst verborgene Sinnhaftigkeit,
die nur auf dem Boden des geistigen Krankheitsprozesses möglich sind. Diese Kranken
bringen weder Mythus noch Offenbarung, die ihre Wirksamkeit haben in der Gemein-
schaft von Völkern. Aber sie bringen Chiffern hervor und sind selber durch ihr ganzes
Dasein ergreifende furchterregende Chiffern. Was bei ihnen nur auf dem Boden des
Wahnsinns, aber nicht allein durch den Wahnsinn möglich wird, zieht auf eine sin-
guläre Weise an. Unheimlich und glaubhaft sprechen sie aus einer Tiefe, aus der durch
sie Unsagbares sagbar wird. Wer nicht menschlich blind ist, kann nicht ohne Entset-