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Jaspers, Karl; Weidmann, Bernd [Hrsg.]; Fuchs, Thomas [Hrsg.]; Halfwassen, Jens [Hrsg.]; Schulz, Reinhard [Hrsg.]; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Hrsg.]; Akademie der Wissenschaften zu Göttingen [Hrsg.]; Schwabe AG [Hrsg.]
Karl Jaspers Gesamtausgabe (Abteilung 1, Band 13): Der philosophische Glaube angesichts der Offenbarung — Basel: Schwabe Verlag, 2016

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https://doi.org/10.11588/diglit.51323#0172
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Der philosophische Glaube angesichts der christlichen Offenbarung

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die nur in ihnen selbst, nicht durch Bezug auf ein anderes hörbar ist, und deren spre-
chendes Subjekt selber ungekannt und unkennbar und unerschließbar ist. Aber die
Chiffern lassen sich deuten, doch so, daß ihr Sinn unerschöpfbar ist und die Deutung
im Grunde durch andere Chiffern geschieht.
Was kann Chiffer sein? Alles, was ist, und was von Menschen hervorgebracht wird,
Reales, Vorgestelltes, Gedachtes? Man findet sie in der mythischen, religiösen, philo-
sophischen, in der dichterischen und künstlerischen Überlieferung.
Das Reich der Chiffern entzieht sich einer ihrem Wesen angemessenen Ordnung.
Ein Entwurf der Welt der Chiffern wird vielmehr zu einer unabschließbaren Beschrei-
bung und Sammlung des historisch Vorgekommenen. Es wird äußerlich und neutral
gesehen und verblaßt zu Unwirklichkeiten und wird in der Ordnung zu einem leb-
losen Herbarium.
Man mag, die Vielfachheit sondernd, Rangordnungen und Dimensionen der Chif-
fern unterscheiden, aber es wird kein abgeschlossenes Reich und keine gleichbleibende
Ordnung. Denn die Chiffern sind nicht feste Gebilde, sondern wandeln sich selber in
der endlosen Deutbarkeit, in der Aneignung und Verwerfung. Man kann sie von au-
ßen nicht fassen, ohne sie zu verderben zu etwas wie Fahnen oder Schlagworten. Da
sie keine Fixierung zulassen, ohne zu erlöschen, sie vielmehr zur Bewahrung ihres Le-
bens der Schwebe bedürfen, ist philosophisch das Sprechen in Chiffern nur so lange
wahrhaftig, als dieses Schwebende bleibt.
Dichtung und Kunst bringen in der Anschauung die reinste und herrlichste Chif-
fernsprache hervor. Sie heben aus der Barbarei heraus und lassen uns menschlich wer-
den. Am reinsten vermochten es die großen Dichter, Aeschylus, Dante, Shakespeare.
Sie stehen jenseits der Frage nach Realisierung. Sie sprechen durch ihre Chiffern er-
greifend an, weil sie nicht die Leibhaftigkeit meinen wie der dogmatisch fixierte Kult
in seinem Glaubensgegenstand.
| Wie zu jedem menschlichen Tun gehört auch zur Dichtung und Kunst eine Ge- 70
fahr. Wahrheit für immer bleibt Platos Kampf gegen die Dichter, der schon bei Hesiod
begann, sich von Augustin bis zu Kierkegaard und Nietzsche fortsetzte und analog bei
Konfuzius war. Dieser Kampf bedeutete nie die Verneinung der Dichtung, sondern ver-
langte ihre Lenkung. Warum?
1. Weil sie verführen kann, schlimmen Antrieben zu folgen, die durch manche Wei-
sen von Dichtung und Musik erregt und gesteigert werden, - weil Unwahrheit sich in
die anschauende Seele senkt, - weil die Faszination durch die Anschauung als solche
erfolgt.
2. Weil sie verführt zu »ästhetischer« Haltung, das heißt zum unverbindlichen An-
schauen aller Dinge, zum Genuß ihres Soseins, der Gestaltungen und Formungen. Es

Vgl. meine »Philosophie«, Band III.
 
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