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Jaspers, Karl; Weidmann, Bernd [Hrsg.]; Fuchs, Thomas [Hrsg.]; Halfwassen, Jens [Hrsg.]; Schulz, Reinhard [Hrsg.]; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Hrsg.]; Akademie der Wissenschaften zu Göttingen [Hrsg.]; Schwabe AG [Hrsg.]
Karl Jaspers Gesamtausgabe (Abteilung 1, Band 13): Der philosophische Glaube angesichts der Offenbarung — Basel: Schwabe Verlag, 2016

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https://doi.org/10.11588/diglit.51323#0230
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Der philosophische Glaube angesichts der Offenbarung

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Jesus als Mensch steht in der Reihe der Propheten: er verkündigt das Reich Got-
tes, das Weitende, das Ethos der Bergpredigt und eine menschliche Grundverfassung
im Gottesglauben, die nicht so radikal neu ist wie die Verkündung Christi durch die
Apostel.
In der Zeit kritischer Geschichtsforschung wird das Vorliegen apostolischer Bezeu-
gung, die als Glaubensbezeugung unkritisch in eins mit dem Bezeugen historischer
Tatsachen gemeint war, als historisches Zeugnis fragwürdig. Wenn man versucht, mit
den historischen Methoden, raffiniert wie Untersuchungsrichter, herauszubekom-
men, was als historisch tatsächlich mit mehr oder weniger großer Wahrscheinlichkeit
gelten darf, so hat man das, worauf es für den Offenbarungsglauben ankommt und
was nur für diesen Glauben da ist, verlassen. Kierkegaard zog als erster die Konsequenz:
die historische Forschung ist für den Glauben gleichgültig, ihre Ergebnisse sind für ihn
belanglos, die Beschäftigung mit ihr zieht eher vom Glauben ab als daß sie zu ihm hin-
führt.47 Nicht das historisch fragwürdige Zeugnis, sondern die Bezeugung des Glau-
bens ist zu hören; durch sie spricht die Offenbarung. -
Zu 3. Inspiration ist eine Erfahrung. In neuerer Zeit hat sie Nietzsche von sich be-
richtet: »Man hört, man sieht nicht; man nimmt, man fragt nicht, wer da gibt; wie ein
Blitz leuchtet ein Gedanke auf, mit Notwendigkeit... ein vollkommenes Außersichsein
mit dem | distinktesten Bewußtsein einer Unzahl feiner Schauder... ein Lichtüberfluß
... ein Instinkt rhythmischer Verhältnisse ... das Bedürfnis nach einem weitgespann-
ten Rhythmus ist beinahe das Maß für die Gewalt der Inspiration... Alles geschieht im
höchsten Grade unfreiwillig, aber wie in einem Sturme von Freiheitsgefühl... Die Un-
freiwilligkeit des Bildes, des Gleichnisses ist das merkwürdigste. Man hat keinen Be-
griff mehr, was Bild, was Gleichnis ist. Alles bietet sich als der nächste, der richtigste,
der einfachste Ausdruck.«48
Aber solche Inspirationserfahrung mag ein Leitfaden für den Glauben an die Ins-
piration der Bibel sein. Etwas ganz anderes ist jedenfalls der Prozeß der Kanonisierung
der Heiligen Schrift, die im Laufe von Generationen aus einer umfangreichen Schrif-
tenmasse ausgewählt wurde. Die Fragen sind: Wird ausgewählt durch die in langer Zeit
Gewohnheit gewordene Wertschätzung breiterer Kreise, durch die Qualität der Schrif-
ten, durch Zufall? Oder wird dieser Prozeß selber als die von Gott gelenkte Auslese des
von ihm Inspirierten geglaubt?
Immer ist der grundsätzliche Unterschied zwischen den Propheten, Aposteln,
Priestern und allen anderen Gläubigen. Diese glauben nicht aus erster Hand, sondern
auf Grund der Mitteilung von jenen, die Zeugnis geben. Dieses Zeugnis zu glauben ist
von der Art, daß dem Glaubenden die Bedingung seines Glaubenkönnens gegeben sein
muß. Diese Bedingung ist für den Zuschauenden, Kommunikation Suchenden das er-
staunlichste. Er kann sie nicht begreifen; sie ist das »aus erster Hand« bei allen Glau-
benden. Aber er muß sie befragen; sie ist für die anderen nicht ein eindeutiger, über-
all gleicher, fester, unberührbarer Punkt.

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