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Jaspers, Karl; Weidmann, Bernd [Editor]; Fuchs, Thomas [Editor]; Halfwassen, Jens [Editor]; Schulz, Reinhard [Editor]; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Editor]; Akademie der Wissenschaften zu Göttingen [Editor]; Schwabe AG [Editor]
Karl Jaspers Gesamtausgabe (Abteilung 1, Band 13): Der philosophische Glaube angesichts der Offenbarung — Basel: Schwabe Verlag, 2016

DOI Page / Citation link: 
https://doi.org/10.11588/diglit.51323#0287
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186

Der philosophische Glaube angesichts der Offenbarung

Der Ort der Transzendenz oder die Transzendenz selbst ist das Allumgreifende und
als solches Verborgene, das für Existenz und allein für Existenz in der Erfahrung ihrer
Freiheit Wirklichkeit ist. Existenz ist nicht ohne Transzendenz. Dies ist gleichsam die
Struktur der Existenz, abgesehen davon wie Transzendenz im Raum des Bewußtseins
überhaupt und des Geistes auch immer vorgestellt und gedacht wird.
3) Existenz ist als der je Einzelne, als dieses Selbst, unvertretbar und unersetzbar.
In den Kategorien »das Allgemeine und das Individuum« scheint die Existenz als
das Individuum bestimmt. In den Kategorien »Wesen und Wirklichkeit« (essentia und
existentia) scheint die Existenz als Wirklichkeit bestimmt. In diese Kategorien aber ist
der Sinn der Einzigkeit und Unvertretbarkeit hineinzunehmen.
Das geschieht nicht, wenn das Allgemeine und das Wesen als das Erste, Bleibende,
eigentlich Seiende gilt, und das Einzelne als verschwindender Fall. Wenn man aber um-
119 kehrt und sagt: das erste ist | die Existenz, sie geht dem Allgemeinen, dem Wesen vor-
her - so ist auch das falsch, sofern der Einzelne er selbst nur durch das Allgemeine ist.
Sowie man unter Existenz den Gegenstand der Erfahrung als die Realität des In-
dividuellen, der Einzeldinge versteht, die in der Welt vorgefunden werden, so ist das
nicht die Existenz des Selbstseins, sondern das brutale Vorhandensein von Einzel-
nem in der Welt, das als Existenz fälschlich verklärt wird. Das Faktum ist noch nicht
»Existenz«.
Das »individuum est ineffabile« gilt für beides. Aber die »Existenz« ist nicht Einzel-
ding, dessen Realität als objektiver Gegenstand unendlich ist, sondern Wirklichkeit,
die als Aufgabe ihrer selbst unendlich ist. Existenz ist nicht nur Vorgang in der Welt,
sondern Ursprung von anderswoher, der in der Welt zur Erscheinung kommt.
Sowie man die Existenz als das Umgreifende des je einzelnen umgreifenden Da-
seins nimmt, blickt man zwar tiefer als im bloßen Anschauen des gegenständlich vor-
kommenden Faktischen. Aber Dasein ist noch nicht Existenz. Daß ich da bin, dies Sich-
finden als Leben in der Welt, ist noch nicht die Selbstvergewisserung der Existenz.
Sowie ich mein Entscheidenkönnen bemerke, nicht bloß als Wahlfähigkeit der
Willkür im Dasein, sondern als die Möglichkeit des Entschlusses, durch dessen Not-
wendigkeit ich ich selbst bin, sehe ich im Grunde dieses Entscheidenkönnens die
mögliche Existenz: was ich bin, das werde ich durch meine Entscheidungen. Wenn
ich aber die Freiheit der Existenz schon in der Willkür sehe oder in der Bejahung des
richtig Gedachten, so habe ich die existentielle Freiheit verfehlt. Denn die Wahl im
Seinkönnen der Existenz heißt: eigentlich sein können vor der Transzendenz. Eine
Schöpfung seiner selbst aus dem Nichts der Willkür oder der allgemeinen Richtigkeit
ist phantastisch.
Denn wenn das Seinkönnen der Existenz als absolutes Sein verstanden wird, als ob
es aus dem Nichts durch seine Wahl erst Sein und dieses Sein würde, so widerspricht
dies der geschichtlichen Grunderfahrung: Existenz ist Seinkönnen des Entschlusses
im Sichgeschenktwerden, nicht aus dem Nichts, sondern vor der Transzendenz.
 
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