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Jaspers, Karl; Weidmann, Bernd [Hrsg.]; Fuchs, Thomas [Hrsg.]; Halfwassen, Jens [Hrsg.]; Schulz, Reinhard [Hrsg.]; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Hrsg.]; Akademie der Wissenschaften zu Göttingen [Hrsg.]; Schwabe AG [Hrsg.]
Karl Jaspers Gesamtausgabe (Abteilung 1, Band 13): Der philosophische Glaube angesichts der Offenbarung — Basel: Schwabe Verlag, 2016

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https://doi.org/10.11588/diglit.51323#0310
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Der philosophische Glaube angesichts der Offenbarung

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ser geschichtlichen Gestalten zu konstituieren, sondern der Situation entsprechend,
in die wir heute hineingeboren sind, das zu tun, was dem Wissenden übrig bleibt: Her-
ausgerissen aus allen bisherigen Glaubensselbstverständlichkeiten kann der Mensch
weder eine solche wiederherstellen (eine künstliche Wiederherstellung würde eine un-
ehrlich gewordene Tradition vergeblich zu halten versuchen) noch eine neue nach
Plan machen. Etwas anderes kann entstehen: Im Umgang mit der verstehend angeeig-
neten Überlieferung der Ursprünge und der geistigen Verwirklichungen, im Besitz sol-
chen verstehenden Wissens, fähig zu der unendlichen Reflexion, muß der Mensch sei-
nen Ernst in neuer Gestalt gründen, die ein in der Mitteilung allgemein verbindendes
formales Grundwissen als Voraussetzung sucht.
Es gibt bisher nicht eine einzige, allgemein anerkannte Grundstruktur dessen, als
was und worin wir uns finden. Jede der großen geschichtlichen Gestalten scheint ihre
eigene Struktur zu haben, der gegenüber einer anderen etwas Inkommensurables ei-
gen ist.
Bei der historisch analysierenden Betrachtung scheint jeder eine bestimmte Be-
schränkung zuzugehören, eine Blindheit für anderes, eine Absolutheit, die das andere
nur anverwandeln, nicht bestehen lassen kann.
| Utopisch scheint es, nach einer Grundstruktur zu suchen, wie wir sie in den Wei-
sen des Umgreifenden entwerfen. Der Sinn solchen Entwurfs ist nicht das Selbstver-
ständnis eines Glaubens, auch nicht die Beschreibung des historisch Gegebenen, auch
nicht die Abstraktion des Allgemeinen des in allen Glaubenswirklichkeiten enthalte-
nen gemeinsamen Glaubensinhalts in einer vermeintlich von jedermann anzuerken-
nenden Verdünnung.
Daher das Schwebende des Entwurfs, der nur für diesen Augenblick der Mitteilung
zu einer nur vorübergehenden Festigkeit gerinnt. Daher aber auch die Aneignung von
längst ausgesprochenen Grunderfahrungen.
Daher ist der Entwurf kein Ordnungsplan für die historisch gegebenen Glaubens-
möglichkeiten, sondern er ist ein Mittel der Kommunikation.
Wenn das Hinhören auf die Mitteilungen Glaubender in der gesamten Menschheit
für den Entwurf des Grundwissens selber notwendig ist, so nicht nur wegen des Betrof-
fenseins von jedem Ernst, der uns begegnet. Wir möchten keine Dimension der ur-
sprünglichen, gemeinsamen formalen Möglichkeiten verlieren. Wir möchten unsere
immer noch nicht genügende Offenheit erweitern.
Es ist die Frage, ob alle Menschen auf dem Erdball sich schließlich gemeinsam grün-
den könnten auf die allgemeine Vernunft, die wesentlich als die Form des Sichverbin-
dens überhaupt entworfen ist. Ist ein gemeinsamer Rahmen von größter Weite mög-
lich, innerhalb dessen die Kommunikation geschichtlich heterogenen Glaubens und
seines Selbstverständnisses geschehen könnte, ohne sich preiszugeben, vielmehr um
sich selber aus der eigenen Tiefe zu verwandeln in die neuen Gestalten, die unter den
Bedingungen des nun anbrechenden Erdzeitalters den Ernst der Menschen gründen?

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