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Jaspers, Karl; Weidmann, Bernd [Hrsg.]; Fuchs, Thomas [Hrsg.]; Halfwassen, Jens [Hrsg.]; Schulz, Reinhard [Hrsg.]; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Hrsg.]; Akademie der Wissenschaften zu Göttingen [Hrsg.]; Schwabe AG [Hrsg.]
Karl Jaspers Gesamtausgabe (Abteilung 1, Band 13): Der philosophische Glaube angesichts der Offenbarung — Basel: Schwabe Verlag, 2016

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https://doi.org/10.11588/diglit.51323#0329
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Der philosophische Glaube angesichts der Offenbarung

schließlich uns selbst verwechseln, dann wird unser Dasein nicht zur Existenz gelan-
gen. Wir weichen aus, wir stellen uns nicht selbst. Der Umgang führt nicht in die Tiefe
einer möglichen Geschichtlichkeit.
Im Umgang mit mir selbst in meiner Situation hat das Allgemeine im verständigen
Planen seine unerläßliche Bedeutung beim Finden und Erfüllen des Lebenswegs. Aber
ich selbst in meiner Geschichtlichkeit werde erst wirklich, wenn ich horche auf das,
was mir zugehört, was in den Zufällen an mich herankommt, in neuen Situationen als
172 Chance oder Sperre sich zeigt. Besonders in der Jugend ist dieses | Warten und Zugrei-
fen, Hineinwagen und Zurückweichen in dieser geheimnisvollen Welt zugleich das be-
schwingende »man weiß nicht, was noch werden mag«.139 Es begründet Unruhe und
Vertrauen. Die Zufälle sind mehr als Zufälle, zwar nicht für das Wissen, aber für das Be-
wußtwerden der eigenen, einmaligen Geschichtlichkeit. Diese ist durch kein Planen
im ganzen vorwegzunehmen. Sie enthüllt sich kraft des eigenen Sicheinsenkens in die
Wirklichkeit.
Die Stoiker sprachen von der Vorsehung der Weltvernunft, mit der der philosophi-
sche Weise im Einklang ist. Der Offenbarungsglaube sieht in dieser Vorsehung die Füh-
rung des Gottes, der sich offenbart.
Der philosophische Mensch erfährt seine Geschichtlichkeit in seinem Umgang mit
den Zufällen und gewinnt in dem Miteinander seiner Spontaneität und des jeweils Ge-
gebenen, seines Wagemuts und seiner Schranken einen in Chiffern zweideutig sich er-
hellenden Bezug auf Transzendenz. Der Offenbarungsgläubige erfährt darin die Fü-
gung des bestimmten, einen, offenbarten Gottes. In der Geschichtlichkeit selber zeigt
sich wieder der Sprung zwischen dem philosophischen und dem Offenbarungsglauben.
(3) Die Chiffern sind geschichtlich. Als allgemeine verlieren sie an Substanz. Aber
ohne die Struktur eines Allgemeinen haben sie keinen Bestand. Sie sprechen zu uns in
der konkreten Gestalt, in der sie geschichtlich an uns herantreten, nicht schon in Ab-
straktionen. Werden sie in Typen geschildert, nehme ich sie nur wahr in einem ver-
blaßten, schematisierten Zustand. Im Reden über sie sind sie selber nur noch von fern
her als Möglichkeit ihres geschichtlichen Wesens hörbar. Das Sammeln steht dem Ein-
maligen im Wege. Das getrocknete Herbarium vermittelt nur die Schatten der Erschei-
nung der lebendigen Gewächse. Chiffern werden mir geschichtlich gegenwärtig, sei
es in der Ruhe des Verweilens, sei es in plötzlichem Überfallensein. Sie verschwinden
im Durcheilen ihrer Anhäufungen und in ihren endlosen Typisierungen. Dann tritt
die leere Müdigkeit ein, die Chiffern werden sprachlos.
(4) Jede Leibhaftigkeit hat als Gegenstand der Sinne einen allgemeinen Charakter
und ist daher ersetzbar. Leibhaftigkeit gewinnt ihre Auszeichnung, wenn sie im ge-
schichtlichen Bewußtsein aufgenommen ist und dann erst ihr einmaliges, unersetz-
liches Wesen hat.
Was geschichtlich ist, ist auch leibhaftig. Der Offenbarungsglaube gründet in abso-
lut einziger, mit keiner anderen vergleichbarer geschichtlicher Leibhaftigkeit. Der of-
 
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