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Jaspers, Karl; Weidmann, Bernd [Editor]; Fuchs, Thomas [Editor]; Halfwassen, Jens [Editor]; Schulz, Reinhard [Editor]; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Editor]; Akademie der Wissenschaften zu Göttingen [Editor]; Schwabe AG [Editor]
Karl Jaspers Gesamtausgabe (Abteilung 1, Band 13): Der philosophische Glaube angesichts der Offenbarung — Basel: Schwabe Verlag, 2016

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https://doi.org/10.11588/diglit.51323#0342
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Der philosophische Glaube angesichts der Offenbarung

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aber erst nach einem mühsamen wissenschaftlich-kritischen Reinigungsprozeß. Durchweg sind
sie eine Weise der Aneignung der Chiffern, die die Chiffern selber existentiell auslöscht. Man
wird dieses Gegners weder ansichtig noch kann man ihn fassen. Was etwa C. G. Jung, der be-
rühmte Repräsentant dieser heute verbreiteten Interpretationsweise, als er selbst ist, kann kein
anderer wissen. Was aber in seiner Lehre und seinen Urteilen auftritt, ist jenes Ungreifbare. Es
ist, als ob die ganze Welt der Mythen, Symbole, Spekulationen in einen Sumpf verwandelt
würde. Da werden »Organismen« der Archetypen als Weltmächte hingestellt, gnostische Welt-
dramen entworfen und etwa der Jahwe des Alten Testaments der Psychoanalyse unterworfen.
Jahwe wird entlarvt, wie Psychoanalytiker zu entlarven pflegen.171 Auch sieht man nicht mehr
die schöpferische Gewalt in den Visionen der alten Gnostiker und ihrer Nachfolger bis Jacob
Böhme und Schelling und noch bis Ludwig Klages,172 sondern die Manier rationalen, psycho-
analytischen Hantierens, mit dem Pochen auf das »Irrationale«. Die wissenschaftliche Psychia-
trie geht ebenso verloren wie die Philosophie. Die existentiellen Folgen solchen Interpretierens
sind erschreckend. Diese Metaphysik, der das Leben eine Krankheit ist, die durch Psychoana-
lyse geheilt wird, erlaubt ruinöse Befriedigungen und Rechtfertigungen. Wer sein Dasein als
krankes Nervensystem versteht, versteht sich wissenschaftlich unrichtig und zugleich existen-
tiell unwahr.
(3) Die Chiffern haben ihr Gewicht in einer aufsteigenden Reihe: sie werden zuerst
kund in ästhetischer Unverbindlichkeit als ein un|ermeßliches Reich von Bedeutun-
gen - wir gewinnen dann Teil an ihnen in der Betroffenheit - sie erhellen schließlich
im Augenblick der wirklichen Situation unsere Existenz.
Alles Interpretieren von Chiffern erweist sich als Zeugnis vom eigenen Erfahren der
Chiffern. Ein objektives, neutrales Verstehen der Chiffern gibt es nicht. Der Interpre-
tierende nähert sich den Chiffern erst dann, wenn er in ihnen mitlebt. Es gibt Chif-
fern nur für mögliche Existenz.
Das zu dem Einzelnen sprechende Reich der Chiffern kann arm und dürftig oder
reich und kraftvoll sein. Wer meint, dieses Reich hinter sich gelassen zu haben, täuscht
sich. Er ist sich nicht bewußt, was ihm noch Chiffer ist auch dann, wenn ihm die Welt
zur vermeintlichen Realität des Wißbaren und zum stumpfen Ernst der Leistungen ge-
worden ist.
(4) Interpretation der Chiffern kann Wahrheit nur gewinnen aus dem Ursprung im
Interpreten. Er muß dem Ursprung verwandt sein, aus dem sie entsprungen sind oder
in dem sie gehört werden. Der Ursprung ist als solcher nicht geradezu faßbar, sondern
mit Begriffen als Signen der Existenz sehr verschieden benannt: der Geist, die bewe-
gende Idee, das absolute Bewußtsein, die Stimmung - der Entschluß, die Wahl, das ei-
gentliche Handeln - die Liebe. Sofern damit Erscheinungen gemeint sind, die als em-
pirische psychologische Realitäten beschreibbar und erforschbar sind, erreicht man
nicht, was mit jenen Begriffen als Signen der Existenz getroffen werden soll. Sofern
man mit ihnen den existentiellen Ursprung, den Anfang existentieller Bewegung, das
Umgreifende meint, sind sie psychologisch nicht zu beschreiben. Was aus ihnen her-
aus geschieht, das erfahren wir als Selbstwerden. Es bedarf der Kontrolle durch das

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