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Jaspers, Karl; Weidmann, Bernd [Editor]; Fuchs, Thomas [Editor]; Halfwassen, Jens [Editor]; Schulz, Reinhard [Editor]; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Editor]; Akademie der Wissenschaften zu Göttingen [Editor]; Schwabe AG [Editor]
Karl Jaspers Gesamtausgabe (Abteilung 1, Band 13): Der philosophische Glaube angesichts der Offenbarung — Basel: Schwabe Verlag, 2016

DOI Page / Citation link: 
https://doi.org/10.11588/diglit.51323#0345
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244

Der philosophische Glaube angesichts der Offenbarung

Dies Urteil darf nicht mißverstanden werden. Die gelehrte Interpretation, mit der
Strenge reiner Wissenschaftlichkeit, ist unerläßlich. Ihr verdanken wir, daß die Quel-
len der Überlieferung ungetrübt zugänglich werden. Sie lehrt die Herausarbeitung des-
sen, was als historisch real sich nachweisen läßt und was in den Werken der damals
gemeinte Sinn war. Sie leistet eine nur berufsmäßig mögliche Arbeit, die nicht Selbst-
zweck ist. Denn sie läßt unter der Voraussetzung, daß das historisch Erweisbare nicht
umgangen wird, die verwandelnde Aneignung frei, die tiefer dringt als wissenschaftli-
che Interpretation es vermag. Das Verstehen in Berührung von Ursprung zu Ursprung
geschieht auf unberechenbaren Wegen. Augustin konnte nicht Griechisch lesen, ver-
stand aber Plato und Plotin aus Übersetzungen vielleicht besser als alle seine Zeitge-
nossen. Die gelehrte Interpretation kann die Quellen nicht nur in Editionen und Kom-
mentaren, sondern auch in Übersetzungen bereitstellen. Sie kann das Verstandene
auf einfachste Weise hörbar und sichtbar machen. Was sie erforscht, hat seine Bedeu-
tung in dem Maße als es durch Schule und durch eigenes Vorbild der Interpreten die
hohen Ansprüche unserer geistigen Ahnen in der Breite der Bevölkerung glaubwür-
dig werden läßt, und als sie vorbereitet, was nicht existentiell bodenloses historisches
Verstehen ist, sondern Aneignung zur Lebenspraxis wird in der gegenwärtigen Welt,
dem technischen Zeitalter. Dann erst entsteht nicht nur beschauliche Überlieferung.
Dann entfremdet das historische Verstehen nicht mehr der gegenwärtigen Aufgabe,
sondern tritt in ihren Dienst.
(7) Die mythischen (anschaulichen) und die spekulativen (begrifflichen) Chiffern
haben gemeinsam die ständige Wandelbarkeit. Von Anfang hat der Mensch in mythi-
schen Anschauungen gedacht, in Urbildern, göttlichen Ereignissen und Handlungen,
in Gründungen von Welt und Menschen, deren Spiegel und neue Verwirklichung das
gegenwärtige Denken und Tun ist. Diese aus der mythischen Urzeit, aus unvordenkli-
192 eher Zeit überlieferten Anschauungen haben in der Helle | ihres Bewußtseins etwa die
griechischen Tragiker angeeignet, sie verwandelnd und vertiefend. Wie sie erleuchte-
ten gleichzeitig den Grund der Welt und der Götter und der menschlichen Dinge die
griechischen Philosophen. Sie haben im reinen Denken ihrer Spekulation Gipfel er-
klommen, die sich der Anschauung entziehen. Ihnen waren die Begriffe selber Chif-
fern. Es entstand die gleiche Beweglichkeit im aneignenden Deuten und Umdeuten.
Die Denkfiguren sind eine Analogie mythischer Anschauungen. Innerhalb dieser Fi-
guren herrscht eine Logik, aber als Ganzes sind sie schwebend wie die mythischen
Chiffern.
Die geistige Situation verändert sich, wenn Mythen und Spekulationen in dogma-
tischem Wissen erstarren, wie es immer schon von Anfang an geschehen ist. Es erlah-
men die existentielle Kraft und das ursprüngliche Denken in Chiffern. Die Freiheit ver-
schwindet. Freiheit war auch dann, wenn die ältesten Philosophen zum Teil als geistige
Despoten auftraten mit dem Anspruch der absoluten Wahrheit der von den je Einzel-
nen zuerst und für sie endgültig gewonnenen Einsicht. Der eine schlug gleichsam dem
 
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