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Jaspers, Karl; Weidmann, Bernd [Editor]; Fuchs, Thomas [Editor]; Halfwassen, Jens [Editor]; Schulz, Reinhard [Editor]; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Editor]; Akademie der Wissenschaften zu Göttingen [Editor]; Schwabe AG [Editor]
Karl Jaspers Gesamtausgabe (Abteilung 1, Band 13): Der philosophische Glaube angesichts der Offenbarung — Basel: Schwabe Verlag, 2016

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https://doi.org/10.11588/diglit.51323#0347
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246

Der philosophische Glaube angesichts der Offenbarung

dem Maße, als es das bloße Selbstverständnis der Verwahrlosung, die Frechheit des Gemeinen,
das chaotische Treiben als Lust an der Verzweiflung im Bilde vollzieht. Man spricht in der Dich-
tung und Kunst wohl von »Qualität«. Dieser vieldeutige Ausdruck deckt alles, weil er ein bloßes
Können der Technik zusammenfallen läßt mit der Transparenz der als Chiffer geschaffenen
Gestalten.
Die Verwahrlosung zu ästhetischem Genuß und dessen Ineinsfließenlassen mit der nun
gewiß nur vermeintlichen Erfahrung des Offenbarungsglaubens zeigt sich sogar gelegent-
lich bei Theologen, die vom modernen Ästhetizismus sich einen Augenblick anstecken las-
sen. So redet ein junger Theologe von Bekenntnisformeln der Reformationszeit als »geschlif-
194 fenen Wortgebilden«, die uns »Zeichen, Chiffer, Sprache für das eine und eigentliche sind,
das aus ihnen von jeher zu sprechen versucht hat: Aussage, Mitteilung, Sprache vom Glauben
für Glauben«. Er hört die »in ihren Formeln eingefrorene Musik«. Es ist nicht weit, dann wür-
den auch die biblischen Offenbarungstexte in diesem Sinne genossen werden. Es ist dieselbe
Verkehrung, wie der kultisch werdende Genuß von Wortgebilden und Dichtungen im moder-
nen Snobismus.
Eigentümliche, verkannte oder irreführende, selten in der Wahrheit ihrer Größe gesehene
Erscheinungen sind Dichter und Künstler wie Hölderlin und van Gogh. Was sie in den Jahren
beginnender geistiger Erkrankung an der Grenze menschlicher Möglichkeiten schaffen, ist eine
Chiffernwelt, die anders als die der Dichter und Künstler sonst, nicht weniger tief ergreift. Was
sie geschaffen haben, ist etwas geistig Objektives, das als Werk und Welt besteht. Zwischen dem,
was sie als Einzelne erfahren und vollziehen, und dem, was Völker in Kultus, Mythus, Offenba-
rung gemeinschaftlich haben, ist eine Analogie, aber auch nur eine Analogie. Denn was ihnen
selbst galt, hat eine Weise der Leibhaftigkeit und eine anders als sonst verborgene Sinnhaftig-
keit, die nur auf dem Boden des geistigen Krankheitsprozesses möglich sind. Diese Kranken brin-
gen weder Mythus noch Offenbarung, die ihre Wirksamkeit haben in der Gemeinschaft von
Völkern. Aber sie bringen Chiffern hervor und sind selber durch ihr ganzes Dasein ergreifende
furchterregende Chiffern. Was bei ihnen nur auf dem Boden des Wahnsinns, aber nicht allein
durch den Wahnsinn möglich wird, zieht auf eine singuläre Weise an. Unheimlich und glaub-
haft sprechen sie aus einer Tiefe, aus der durch sie Unsagbares sagbar wird. Wer nicht mensch-
lich blind ist, kann nicht ohne Entsetzen diese wundersamen Schönheiten sehen. Er kann an
deren Tiefen schaudernd teilnehmen, auf eine in der Tat einzige Weise betroffen von Wahrheit
sein, hingerissen von der unvergleichlichen Reinheit Hölderlins (zumal unter Lenkung durch
die entdeckenden Blicke Hellingraths, des im kongenialen Verstehen ebenso reinen Jüng-
lings).177 Aber die Wirklichkeit unserer Existenz verbindet sich nicht mit diesen seltenen Dich-
tern und Künstlern, wenn sie ihnen Raum gibt an der Grenze. Wer mit ihrer Welt leben möchte,
muß sich selbst betrügen entweder in ästhetischer Unverbindlichkeit oder in künstlich gemach-
tem Unfug (wie es nach dem ersten Weltkrieg junge Leute gab, die mit Hölderlin in Kapellen
Mysterien feierten)?178
Philosophie kann Chiffern jeder Herkunft aneignen. Sie bringt selber in ihrer Speku-
lation Chiffern hervor. Aber keine wahre Philosophie könnte reden, als ob es in Voll-
macht, wie aus einem Offenbarungsglauben, geschehe.

Vgl. meine Schrift »Strindberg und van Gogh«, 1921.
 
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