Der philosophische Glaube angesichts der Offenbarung
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(so in den alten Hochkulturen, so in China und Indien, so im christlichen Mittelal-
ter), zuweilen als | rein geistige philosophische Gebilde (Hesiod); die polytheistische 206
Vielfachheit tritt in Ordnungen zusammen, in denen jeder Gott sein Herrschaftsge-
biet hat, der Kampf der Götter in der Folge von Göttergenerationen aufgefangen wird.
Die späteren allumfassenden Systeme, deren letzter Gipfel Hegel war, schienen alles,
was ist, in einer großartigen, auch die radikalsten Kämpfe noch in sich einordnenden
Harmonie zum Bilde werden zu lassen.
In diesen Gebilden wird objektiv, sachlich, unpersönlich erstrebt, was als die eine
ganze Wahrheit gilt in der Meinung, alle Menschen würden sich darin zusammenfin-
den. Aber stets erweisen sich solche Ganzheiten des menschlich Erdachten und Ge-
schauten als beschränkt. Sie werden durchbrochen von Erfahrungen, die in der nie
aufhörenden, nie zu vollendenden kämpfenden Kommunikation, diesem Dynamit
für alle Systeme, uns erst zur ganzen Weite der Möglichkeiten öffnen in dem Verhäng-
nis der Zeit. Hier erwächst aus der Erfahrung die Einsicht, aus der Einsicht der Wille,
uns zwar in dem letzten Motive des Kampfes noch zu verbinden, aber den Kampf sel-
ber doch nicht in eine wenn auch noch so großartige Harmonie der Chiffern einzu-
fangen und abzuschließen.
Im Kampf der Chiffern ist kein Fortschritt in Analogie zu den Wissenschaften zu
finden. Es gibt die großen geschichtlichen Sprünge des Neuauftretens von Chiffern.
Es gibt die Entfaltungen in je einen Chiffernkreis. Es gibt vor allem den Wandel in der
Kraft und der Wahrhaftigkeit des Unbedingten.
Wenn daher etwa die Kämpfe der Theologen so gemeint sind, als ob hier in fort-
schreitender Einsicht eine einzige zum Grunde liegende Tatsache (»einen anderen
Grund kann niemand legen, als der von Anfang gelegt ist«)184 besser im Verstehen des
Glaubens erkannt würde, so kann doch von Fortschritt keine Rede sein. Es gibt nur die
unaufhörlichen Kämpfe der Glaubenserkenntnis, in denen die von außen nicht über-
sehbaren Mächte sich gegenüberstehen. Diese werden sich selbst in diesem Glaubens-
verstehen klarer (wenn es nicht bloß intellektueller Streit ist). Sie stellen ihre Symbole
und Bekenntnisse auf.
(6) Liberalität und Dogmatismus: Im Kampf der Chiffern - mögen sie als Theologie
oder Philosophie auftreten - sprechen wir von Liberalität und Humanität im Gegen-
satz zum Dogmatischen, Orthodoxen, Illiberalen, Inhumanen. Es ist der Unterschied
des offenen, liebenden Kampfes vom unoffenen, lieblosen Kampf um das Wahre. Im
lieblosen Kampf ist dies allein Wahre durch die Offenbarung, eine | Kirche, einen Meis- 207
ter, eine Schule, ein System schon da. Der Kämpfende hat sich ihr als einer in der Welt
anerkannten, mächtigen oder als einer noch ohnmächtigen, von ihm geglaubten
Instanz unterworfen.
Die Liberalität ist tolerant. Diese Toleranz185 ist nicht die der Gleichgültigkeit gegen
das heimlich Verachtete, das nun einmal so da ist und nicht ausgerottet werden kann.
Toleranz ist vielmehr das Ernstnehmen des Fremden, das Hinhören und Sichangehen-
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(so in den alten Hochkulturen, so in China und Indien, so im christlichen Mittelal-
ter), zuweilen als | rein geistige philosophische Gebilde (Hesiod); die polytheistische 206
Vielfachheit tritt in Ordnungen zusammen, in denen jeder Gott sein Herrschaftsge-
biet hat, der Kampf der Götter in der Folge von Göttergenerationen aufgefangen wird.
Die späteren allumfassenden Systeme, deren letzter Gipfel Hegel war, schienen alles,
was ist, in einer großartigen, auch die radikalsten Kämpfe noch in sich einordnenden
Harmonie zum Bilde werden zu lassen.
In diesen Gebilden wird objektiv, sachlich, unpersönlich erstrebt, was als die eine
ganze Wahrheit gilt in der Meinung, alle Menschen würden sich darin zusammenfin-
den. Aber stets erweisen sich solche Ganzheiten des menschlich Erdachten und Ge-
schauten als beschränkt. Sie werden durchbrochen von Erfahrungen, die in der nie
aufhörenden, nie zu vollendenden kämpfenden Kommunikation, diesem Dynamit
für alle Systeme, uns erst zur ganzen Weite der Möglichkeiten öffnen in dem Verhäng-
nis der Zeit. Hier erwächst aus der Erfahrung die Einsicht, aus der Einsicht der Wille,
uns zwar in dem letzten Motive des Kampfes noch zu verbinden, aber den Kampf sel-
ber doch nicht in eine wenn auch noch so großartige Harmonie der Chiffern einzu-
fangen und abzuschließen.
Im Kampf der Chiffern ist kein Fortschritt in Analogie zu den Wissenschaften zu
finden. Es gibt die großen geschichtlichen Sprünge des Neuauftretens von Chiffern.
Es gibt die Entfaltungen in je einen Chiffernkreis. Es gibt vor allem den Wandel in der
Kraft und der Wahrhaftigkeit des Unbedingten.
Wenn daher etwa die Kämpfe der Theologen so gemeint sind, als ob hier in fort-
schreitender Einsicht eine einzige zum Grunde liegende Tatsache (»einen anderen
Grund kann niemand legen, als der von Anfang gelegt ist«)184 besser im Verstehen des
Glaubens erkannt würde, so kann doch von Fortschritt keine Rede sein. Es gibt nur die
unaufhörlichen Kämpfe der Glaubenserkenntnis, in denen die von außen nicht über-
sehbaren Mächte sich gegenüberstehen. Diese werden sich selbst in diesem Glaubens-
verstehen klarer (wenn es nicht bloß intellektueller Streit ist). Sie stellen ihre Symbole
und Bekenntnisse auf.
(6) Liberalität und Dogmatismus: Im Kampf der Chiffern - mögen sie als Theologie
oder Philosophie auftreten - sprechen wir von Liberalität und Humanität im Gegen-
satz zum Dogmatischen, Orthodoxen, Illiberalen, Inhumanen. Es ist der Unterschied
des offenen, liebenden Kampfes vom unoffenen, lieblosen Kampf um das Wahre. Im
lieblosen Kampf ist dies allein Wahre durch die Offenbarung, eine | Kirche, einen Meis- 207
ter, eine Schule, ein System schon da. Der Kämpfende hat sich ihr als einer in der Welt
anerkannten, mächtigen oder als einer noch ohnmächtigen, von ihm geglaubten
Instanz unterworfen.
Die Liberalität ist tolerant. Diese Toleranz185 ist nicht die der Gleichgültigkeit gegen
das heimlich Verachtete, das nun einmal so da ist und nicht ausgerottet werden kann.
Toleranz ist vielmehr das Ernstnehmen des Fremden, das Hinhören und Sichangehen-