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Jaspers, Karl; Weidmann, Bernd [Editor]; Fuchs, Thomas [Editor]; Halfwassen, Jens [Editor]; Schulz, Reinhard [Editor]; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Editor]; Akademie der Wissenschaften zu Göttingen [Editor]; Schwabe AG [Editor]
Karl Jaspers Gesamtausgabe (Abteilung 1, Band 13): Der philosophische Glaube angesichts der Offenbarung — Basel: Schwabe Verlag, 2016

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https://doi.org/10.11588/diglit.51323#0523
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422

Der philosophische Glaube angesichts der Offenbarung

aussagbar ist. So ist »Sein« nicht mehr Sein, sondern Übersein, Jenseits allen Seins - so
»Grund« nicht mehr Grund, sondern (bei Böhme) Ungrund - »Ursprung« nicht mehr
Ursprung, sondern Sprung aus dem Nichts (wie noch in der modernen »Urexplosion«,
aus der die Welt entstanden sein soll).
Oder der Gedanke bleibt innerhalb des Bereichs des Seienden, in dem alle unsere
Wege endlos weitergehen. Dann sucht er den Abschluß im ersten Sein, im Ursein, im
Urgrund, im Ursprung. Dieser Abschluß aber ist auf diesem Wege nicht erreichbar. Da-
her springt der Gedanke aus der Reihe, indem er nach dem Ursprung nicht des An-
fangs der Reihe, sondern der ganzen Reihe fragt. Damit aber ist das Denken des gegen-
ständlich Denkbaren verlassen. Der Umschlag erfolgt in eine andere Dimension, in
das Raumlose, Zeitlose, Gegenstandslose.
Dort sind real-empirische Feststellungen oder logische Argumentationen nur Ele-
mente der Mitteilung, nicht als sie selber von Gewicht. Was aber ist dann noch? Die
existentielle Erhellung durch Denken in Chiffern und im Überschreiten der Chiffern.
416 Das spekulative Denken ist gar nicht selbstverständlich. Wer von | ihm hört, ist zu-
nächst befremdet. Er bleibt es, solange er nicht den Augenblick erfährt, in dem ihm
plötzlich aufgeht, was für das menschliche Denken in der Tat etwas Einziges, Unersetz-
liches ist.
Die Befremdung führt wohl zur Verwerfung dieser sinnlosen, weil gegenstandslo-
sen Spielerei. Dem plötzlichen Ruck aber wird dieses Denken zu einem Ansatz tiefsten
Bewußtwerdens und mit Leidenschaft ergriffen.
4. Das andere Denken
(1) Vergegenwärtigen wir noch einmal den Zustand der Welt und unseres Wissens in ei-
ner Chiffer, die nirgends so entschieden wie in Indien ein erfahrener Gedanke war: Al-
les, was ist, ist Verschleierung. Das Wissen in der Welt, von Gegenständen in der Welt,
im zweckhaften Handeln, ist gerade Unwissen, ist der Schleier der Maya. Was von unse-
rem Dasein in der Maya her gesehen Nichts ist, das ist selber die Wahrheit und die Fülle.
Alles Erkennen, zumal auch das wissenschaftliche Erkennen unserer Zeiten, ist ein
Erkennen des Scheins, selber zum Schein gehörend, im Kreise des Scheins gefangen.
Durch gegenständliche Helligkeit und rationale Klarheit verstärkt sich nur die Ver-
schleierung. Sie ist ein ungeheures Wissen, das gemessen an der Wahrheit eigentlichen
Seinswissens vielmehr ein einziges Scheinwissen, ein Unwissen (avidya) ist.
Woher dieser Schleier, diese unsere Daseinsrealität, die doch nicht aus sich, nicht
eigentlich Sein ist? War es eine ursprüngliche erste Täuschung? ein geschichtlicher
Vorgang, in dem sich verdunkelt hat, was einst hell war? ein Akt des Zaubers täuschen-
der Weltschöpfung? Die Antwort bleibt aus. Oder sie wird in Chiffern gegeben, die ge-
rade das verlorengehen lassen, worum es sich hier handelt, das Überschreiten aller
Chiffern.
 
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