Metadaten

Jaspers, Karl; Weidmann, Bernd [Hrsg.]; Fuchs, Thomas [Hrsg.]; Halfwassen, Jens [Hrsg.]; Schulz, Reinhard [Hrsg.]; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Hrsg.]; Akademie der Wissenschaften zu Göttingen [Hrsg.]; Schwabe AG [Hrsg.]
Karl Jaspers Gesamtausgabe (Abteilung 1, Band 13): Der philosophische Glaube angesichts der Offenbarung — Basel: Schwabe Verlag, 2016

DOI Seite / Zitierlink: 
https://doi.org/10.11588/diglit.51323#0543
Lizenz: Freier Zugang - alle Rechte vorbehalten
Überblick
Faksimile
0.5
1 cm
facsimile
Vollansicht
OCR-Volltext
442

Der philosophische Glaube angesichts der Offenbarung

gen, Werken und Taten hat. Die Keime des eigenen Schaffens verkümmern in der Dürf-
tigkeit der neuen Umwelt.
Macht ist zu dem geworden, was die vernichtende Ohnmacht aller bedeutet.
(d) Symptom des alldurchdringenden Unheils, seines unklaren Bewußtwerdens ist
die unserem Zeitalter eigene Stimmung der Revolte.
Wir haben von Jugend auf gelebt in der inneren Revolte gegen die Bürgerlichkeit,
d.h. gegen die Lüge der Konventionen, gegen den Unernst des alles verschleiernden
Zustands, aus dem keine Größe des Menschen und nichts Verehrungswürdiges sprach,
gegen die landläufige humanistische Bildung, die im selbstzufriedenen Nichteingrei-
fen und ängstlichen Schweigen und billigem Verwerfen eine substanzlose Oberfläche
schien. Wir wollten Wahrheit. Aber wir machten die Erfahrung, daß wir selber sie nicht
kannten. Es bedurfte des eindringendsten selbstkritischen Bemühens, um auch nur
auf den Weg der Wahrhaftigkeit zu gelangen.
441 | Wir fanden die Revolte vor: in großartiger, verwirrender Macht bei Nietzsche, in
dem fanatisch ungerecht werdenden sozialen Gerechtigkeitswillen bei Marx, als alle
Psychologie ins Existentielle und Metaphysische überschreitende, in die offenbaren-
den Extreme drängende Gedanken und Gestalten Dostojewskijs, als existentiell unwe-
sentliche, ins Psychologische verlorene, daher ruinöse Entlarvung durch Freud. Wir
fanden die Revolte in der über alle anderen hinaus ins Unzugängliche hineinfragen-
den, in der indirekten Mitteilung das Unmögliche scheinbar möglich machenden
Denkweise Kierkegaards.
Das alles waren geistige Vorgänge. In ihnen zeigte sich am Ende die Tiefe der Revolte
in einer Unbestimmtheit, die in den Ursprung des Menschen selbst zu weisen schien.
Dazu kam heute die auch faktische Bedrohung des Menschseins: Die Revolten der
Völker der Erde gegen Europa haben begonnen, zunächst in Rußland unter Gebrauch
und Mißbrauch der Gedanken von Marx, dann bei den meisten nicht abendländi-
schen Völkern. Die Atombombe ist der totalen Verneinung in die Hand gegeben, wenn
sie die Menschheit vernichten will.
Alle Weisen der Revolte begannen mit einer Wahrheit. Daher schienen sie alle zu-
sammenzufließen gegen das eine, scheinbar leicht Faßliche, die Lüge und die Unge-
rechtigkeit und gegen das verlogene Leben im ganzen. Aber es geschah so, daß alle
diese Revolten ihrerseits geistig in der Verwirrung unseres Zeitalters und in den ba-
nalsten Verlogenheiten ertrinken. Wahrheit oder Lüge, diese Frage dankte ab zuguns-
ten der Gewalt.
In der seelischen Verfassung der Revoltierenden gewann die Oberhand die einfa-
che Lust des »dagegen«, die Lust an der Zertrümmerung als solcher, an der Vernich-
tung der Tradition, der Ordnungen, der Maßstäbe, die Aggressivität an sich, die Frech-
heit des Selbstbekenntnisses zum Gemeinen durch Wort und Tat. Die Lust des »wir«
in der Gemeinschaft der Substanzlosigkeit erzeugte die Illiberalität, die Intoleranz des
Nein aus dem Nichts heraus. Alles soll zu Nichts werden, außer diesem Nein selber.
 
Annotationen
© Heidelberger Akademie der Wissenschaften