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Jaspers, Karl; Weidmann, Bernd [Hrsg.]; Fuchs, Thomas [Hrsg.]; Halfwassen, Jens [Hrsg.]; Schulz, Reinhard [Hrsg.]; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Hrsg.]; Akademie der Wissenschaften zu Göttingen [Hrsg.]; Schwabe AG [Hrsg.]
Karl Jaspers Gesamtausgabe (Abteilung 1, Band 13): Der philosophische Glaube angesichts der Offenbarung — Basel: Schwabe Verlag, 2016

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https://doi.org/10.11588/diglit.51323#0544
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Der philosophische Glaube angesichts der Offenbarung

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Wenn die Revolte zum Lebensprinzip wird, sie für das eigentlich Wahre und Freie
gilt, dann gerät der Mensch in den Zustand ohne Existenz, in ein Leben ohne Grund-
satz. Er versinkt in das zur Gewohnheit werdende Empörtsein. In dieser Atmosphäre
schwingen sich die eiskalten Manipulierer der Gewalt zur Herrschaft durch Terror
auf. Die einst noch freie emotionale Empörtheit benutzen sie als | neues von ihnen 442
provoziertes Mittel, wo sie sie brauchen, und verbieten sie, wo sie zu Schwierigkeiten
führt.
(e) Die geistige Situation und die Daseinssituation ist heute das Stehen vor Abgrün-
den. Die Frage ist: was nun?
(1) Können wir uns gegen die ins Nichts führende Revolte in uns und außer uns be-
haupten? Wenn wir aber uns einem übergreifend Konservativen, traditionellen Glau-
bensinhalten, Ordnungen und Massen anvertrauen, fallen wir dann nicht zurück in
die verworfenen Verschleierungen, in die Konventionen, in die falsche Beruhigung,
in das Leben mit Kulissen und Gespenstern, die sich uns vor die Wirklichkeit stellen?
Kann die Revolte nicht verwandelt werden in eine Kraft der Vernunft? Dann würde
ein Leben der Wahrhaftigkeit möglich, weder durch die Kulissen traditioneller Kon-
ventionen noch durch die Kulissen der Revolte getäuscht. Auf diesem offenen Wege
würden wir weder der Verzweiflung im Nein noch der Geborgenheit in einer absolu-
ten Ordnung verfallen. Wir würden die Wirklichkeit, die wir sind und in der wir uns
finden, aus sich selbst im Gang des Schicksals sich erhellen lassen. Wir würden im Ja
zum Dasein den Weg des Wagens im Nichtwissen, auf Verwirklichung in der Welt aus-
gehend, unbeirrbar fortsetzen, solange es vergönnt ist.
Jene Ausnahmen des Durchbruches - wie Kierkegaard, Nietzsche -, jene nicht
billig lärmenden, sondern mit ihrer Existenz sich bezeugenden, uns mit ihren Er-
fahrungen erleuchtenden Menschen waren die großen Sichopfernden. Sie zeigten
nicht den Weg. Sie sind nicht Vorbild zur Nachfolge, aber die unersetzlich und un-
ablässig uns bis ins Äußerste befragenden, uns in Unruhe versetzenden, uns befrei-
enden Menschen.
Wir möchten die Liberalität gewinnen des Hörens auf alles und zugleich die Ent-
schiedenheit des Kämpfens in konkreten Situationen. Wir möchten die grenzenlose
Kommunikation. Im Ja zu diesen Impulsen werden wir von jenen Ausnahmen be-
drängt, damit wir nicht in Selbstzufriedenheit gelangen. Es bleiben auch jene Chiffern
der Transzendenz, die in ihrer Unheimlichkeit nicht zu hören Unwahrhaftigkeit wäre.
Um uns gegen sie zu behaupten, folgen wir anderen Chiffern, ohne in der Chiffern-
welt das letzte Absolute anders zu haben als in der Gewißheit des Augenblicks, umgrif-
fen von der Chiffernlosigkeit.
Wo die Revolte nach ihrer Überwindung dann selber ausbleibt, da | verfällt für uns 443
die Wahrheit der Realität. Wo die Revolte absolut wird, da geht die Realität zugrunde.
Die offene Dialektik ist in der Zeit unumgänglich, um wahr zu bleiben und zugleich
leben zu können.
 
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