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Jaspers, Karl; Weidmann, Bernd [Hrsg.]; Fuchs, Thomas [Hrsg.]; Halfwassen, Jens [Hrsg.]; Schulz, Reinhard [Hrsg.]; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Hrsg.]; Akademie der Wissenschaften zu Göttingen [Hrsg.]; Schwabe AG [Hrsg.]
Karl Jaspers Gesamtausgabe (Abteilung 1, Band 13): Der philosophische Glaube angesichts der Offenbarung — Basel: Schwabe Verlag, 2016

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https://doi.org/10.11588/diglit.51323#0583
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482

Der philosophische Glaube angesichts der Offenbarung

sen. Dieser seither durch Jahrtausende geltende kanonische Charakter ist als Ausdruck
einer geschichtlichen Bindung von der Bibel nicht mehr abzustreifen, sowenig wie von
den entsprechenden indischen und chinesischen Schriften.
Die Entstehung des Kanons Alten und Neuen Testaments durch Auswahl aus den
damals vorhandenen und heute nur zum Teil noch erhaltenen Schriften ist trotzdem
eine beiläufige historische Folge. Sie ist für die Aneignung des Gehalts unwesentlich.
Die Motive dieses historischen Prozesses sind vielfach und kaum zu entwirren, aber
ein historisch, nicht sachlich interessantes Thema.
(b) Die Bibel bedarf wie jeder Text des Verständnisses. Dieses teilt sich mit in Aus-
legung. Aber schon der Text selber teilt ein Verstehen mit. Er bezieht sich gleichsam
auf den Grundtext, der in dem gesprochenen und geschriebenen Text schon Ausle-
gung ist. Wo ist die Grenze zwischen Grundtext und auslegendem Text, zwischen dem
auslegenden Text und unserer Auslegung dieses Textes?
Theologen haben unterschieden zwischen dem Offenbarungsinhalt, der von Gott
und ewig gleich ist, und der Auslegung dieser Offenbarung. Diese, von der theologi-
schen Arbeit vollzogen, hat keinen absoluten Anspruch auf die Wahrheit ihrer jewei-
ligen Auslegungen. Diese wandeln sich.
Wo aber ist die Sache selbst, die Offenbarung, wo beginnt die Auslegung? Jeder Satz
der Bibel ist doch schon Auslegung. Denn er ist zum mindesten Übersetzung in
menschliche Sprache und Denkweise. Wir haben die Sache selbst nur immer schon in
der Auslegung. Sie ist nicht gradezu, ohne Auslegung, zu treffen.
Dagegen steht zunächst Luther: Das Wort, sie sollen’s lassen stahn.598 Aber Luther
unterscheidet in den Worten der Bibel. Er verwirft sogar etwa den Jakobusbrief.599 Wer
unterscheidet zwischen dem Wort, das stehenzulassen ist, und dem, was fragwürdig
oder gar verworfen wird?
Dagegen steht ferner jedes in Sätze geformtes Bekenntnis. Aber das Bekenntnis ist
doch schon Auslegung. Die von ihm vollzogene spekulativ-dogmatische Auslegung
mit Hilfe gnostischen und philosophischen Denkens beginnt schon im Neuen Testa-
ment. Und diese Schriftensammlung enthält durchaus mehrfache, nicht auf einen
Nenner zu bringende, auslegende Theologien.
492 | Noch einmal: Das Ausgelegte ist für uns nur in den Auslegungen da. Was uns in
Texten begegnet, ist solche Auslegung und Auslegen der Auslegungen. Dem entspricht,
daß auch die historische Untersuchung des Neuen Testaments an keiner Stelle das Aus-
gelegte selber ohne schon geschehene Auslegung findet und daß diese Auslegungen
dann sich entwickeln, entfalten, in viele Richtungen gehen und ganz verschieden ak-
zentuieren?

Vgl. Rudolf Bultmann, Theologie des Neuen Testaments, Tübingen 1953. Ein ungemein lehrrei-
ches Buch, ebenso gelehrt wie einfach und klar und zuverlässig! Aber der Autor faßt den Sinn des
Buches wohl kaum so auf, wie ich es mir, darin lernend, gestatte.
 
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