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Jaspers, Karl; Weidmann, Bernd [Hrsg.]; Fuchs, Thomas [Hrsg.]; Halfwassen, Jens [Hrsg.]; Schulz, Reinhard [Hrsg.]; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Hrsg.]; Akademie der Wissenschaften zu Göttingen [Hrsg.]; Schwabe AG [Hrsg.]
Karl Jaspers Gesamtausgabe (Abteilung 1, Band 13): Der philosophische Glaube angesichts der Offenbarung — Basel: Schwabe Verlag, 2016

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https://doi.org/10.11588/diglit.51323#0587
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486

Der philosophische Glaube angesichts der Offenbarung

wird, im Neuen Testament Nachwirkungen des Jüdischen kritisch ausgeschieden wer-
den, ist ein empörender Akt christlicher Orthodoxie. Durch ihn wurden sogar sach-
lich nüchterne Forscher veranlaßt, mit ideal typischen Ganzheiten von Judentum und
Christentum so zu operieren, daß sie nicht unter gewissen später aufgetretenen Ge-
sichtspunkten ein begrenztes partikulares Licht auf die früheren Erscheinungen wer-
fen, sondern zwei Glaubensmächte konstruieren, die sich ausschließen, wobei den Ju-
den das Beste, was ihnen gehört, abgesprochen wird. Dieser geistige Gewaltakt des
Zerschneidens verhindert nicht nur die freie Aneignung im offenen Umgang mit der
Bibel, sondern vollzieht durch ein Vorurteil eine historisch und sachlich gleich un-
wahre Trennung. Altes wie Neues Testament stammen gleicherweise von Juden. Inner-
halb des gläubigen Ringens der jüdischen Seele springen alle die sich widersprechen-
den Möglichkeiten auf. Der Glaube des Neuen Testaments ist nicht weniger dem
Judentum erwachsen als das Alte Testament. Jesus war Jude. Auch die Apostel waren
ohne Ausnahme Juden. Die Konstituierung von Synagoge und Kirche ist ein histori-
sches Phänomen zweiten Ranges, das für das Getroffenwerden von der Glaubenswahr-
heit - nenne man sie philosophisch oder theologisch - nicht mehr Gewicht hat als wie
es weltliche Institutionen, die sich die Macht einer Heiligkeit geben, besitzen können.
Unter ihrer Führung gerät man schnell in die Irre, während das glaubende Leben von
Menschen, Familien, Gemeinden die unmittelbare Wirklichkeit ist, mit der in Verbin-
dung zu stehen, in der geboren zu sein, ein Geschenk des Schicksals ist. Der Umgang
mit der Bibel ist als solcher noch nicht Teilnahme an einer bestimmten Konfession,
sondern Teilnahme am aneignenden Auslegen je aus eigener Freiheit.
Im Anschauen der großen Erfahrungen, die aus der Bibel sprechen, gelangen wir
in die Situation, eher zu wissen, wie wir leben, was wir tun. Durch die Bibel werden in
uns die Tiefen geöffnet zum Blick in den Grund der Dinge. Denn sie führt zu den Er-
fahrungen des Äußersten. Sie zeigt die Unbedingtheit des Tuns, das sich opfert, im Be-
wußtsein eines Bundes mit Gott, in einem Gehorsam, der in wirksamen Chiffern sich
jeweils versteht, aber in der Freiheit, die vor der Vielfachheit des Möglichen die Augen
nicht verschließt und im ganzen die Vollendung nicht vorwegnimmt.
4P7 | (g) Nicht protestantische Konfession, sondern Prinzip des Protestantismus ist die
Rückkehr über die traditionellen Formen hinweg zum Ursprung. Diesen Ursprung fin-
det er in den Texten der Bibel. Hier ist im Wandel der Überlieferung der bleibende
breite Boden. Aber dieser Boden ist nur so da, wie er jeweils verstanden wird.
Für das protestantische Prinzip ist die gelehrte Kenntnis der Texte, ihr Studium, das
historische Wissen eine Voraussetzung, um den Glauben am Ursprung verstehend an-
zueignen. Wir lesen daher die Bibel mit gelehrten Kommentaren, aber gar nicht, um
mit dem so zu erwerbenden historischen Wissen und Verstehen zufrieden zu sein,
sondern in der Erwartung, auf diese Weise in Wahrheit den realen historischen Bo-
den zu gewinnen, auf dem aus den Texten zu uns spricht, was nun etwas ganz An-
deres als historische Bedeutung und Realität hat. Die Autorität liegt nicht im Wort,
 
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