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Jaspers, Karl; Weidmann, Bernd [Editor]; Fuchs, Thomas [Editor]; Halfwassen, Jens [Editor]; Schulz, Reinhard [Editor]; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Editor]; Akademie der Wissenschaften zu Göttingen [Editor]; Schwabe AG [Editor]
Karl Jaspers Gesamtausgabe (Abteilung 1, Band 13): Der philosophische Glaube angesichts der Offenbarung — Basel: Schwabe Verlag, 2016

DOI Page / Citation link: 
https://doi.org/10.11588/diglit.51323#0597
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Der philosophische Glaube angesichts der Offenbarung

im Frieden vorübergehender kurzer Zwischenzeiten beruhigt er sich und steigert durch
diese Selbsttäuschung das hereinbrechende Unheil.
Will er durch seine Redlichkeit die Täuschung zum Verschwinden bringen, so zeigt
sich ihm, daß Redlichkeit nur ein Weg, nicht die Wahrheit selber ist. Die Redlichkeit
läßt die Wahrheit in ihrer Erscheinung in eine unvollendbare Dialektik geraten.
Die Unlösbarkeit der realen Widersprüche führt in die Ausweglosigkeit, deren letz-
ter Grund uns unbegreiflich ist.
50p (b) Wie der Grundzustand zum Bewußtsein gebracht und durch | die innere Hal-
tung des Menschen übernommen wird, dafür ist im Abendland die biblische Religion
das größte Beispiel.
Die biblische Religion, in ihren höchsten geschichtlichen Augenblicken wie eine
Kette von Gipfeln der Wahrhaftigkeit des Menschen, dem sich zeigt, was ist, ob in Je-
remias, im Dichter des Hiob, in Jesus, ist ständig im Abfall und in der Wiederkehr.
Die Leibhaftigkeit, in die die Chiffern abglitten, machte eine Daseinsrealität zur
absoluten Realität:
Der »Bund« Gottes mit dem auserwählten Volk erzeugte einen kriegerischen Natio-
nalismus (mächtig, enthusiastisch, opfermutigund erbarmungslos im Deborah-Lied).614
Die sittliche Forderung Gottes wurde zum äußerlichen inbrünstig befolgten Gesetz.
Das existentielle Wissen von den Grenzen von Mensch und Welt ließ das leibhaf-
tig gemeinte, kurz bevorstehende Weitende erwarten.
Der Mensch Jesus wurde zum Gott Christus.
Wenn in der Praxis die hohen Forderungen des Glaubens nicht erfüllbar waren, so
bildete sich eine gleichsam aristokratische Absonderung derer, die die Forderung zu
erfüllen entschlossen waren. Im Gesetzesjudentum gab es die Gesetzeskundigen und
die die Gesetze bis ins einzelne und sorgfältigste durchführenden Männer. Die Ande-
ren, die Unwissenden, das Volk hatten keinen Zugang und die Wissenden selber konn-
ten den Ansprüchen nicht genügen.
Im Christentum gibt es die Mönche, die durch ihr Leben erfüllen, was das Volk
nicht erreichen kann. Unter ihnen gibt es reine Seelen. Aber es gab auch die mönchi-
sche Askese, die aus der Weltverachtung umschlug in den kirchlichen Willen, diese
Welt Gott, das heißt dem eigenen Glauben, sich selber zu unterwerfen, zu Gewissens-
zwang und Welteroberung zu schreiten.
Eignet diesen Erscheinungen, die wir für Abgleitungen halten, eine eigene Groß-
artigkeit durch den Ernst, der in ihnen sich bezeugt, so steht es anders mit einer Ab-
fallserscheinung, die durch alle Zeiten geht. In der Lebenspraxis wurde die unbedingte
göttliche Forderung angepaßt an die jeweiligen Realitäten der soziologisch-staatlichen
Zustände und der psychologischen Durchschnittlichkeit. Das Unerfüllbare sollte in
Erfüllbarkeit unter Preisgabe der Wahrheit verwandelt werden. Vergeblich hat das
kirchliche Denken in einer als geistige Leistung bewunderungswürdigen Entwicklung
den Ausgleich der Unstimmigkeiten im Grunde zu überwinden und aufzuheben ver-
 
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