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Jaspers, Karl; Weidmann, Bernd [Editor]; Fuchs, Thomas [Editor]; Halfwassen, Jens [Editor]; Schulz, Reinhard [Editor]; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Editor]; Akademie der Wissenschaften zu Göttingen [Editor]; Schwabe AG [Editor]
Karl Jaspers Gesamtausgabe (Abteilung 1, Band 13): Der philosophische Glaube angesichts der Offenbarung — Basel: Schwabe Verlag, 2016

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https://doi.org/10.11588/diglit.51323#0602
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Der philosophische Glaube angesichts der Offenbarung

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spricht.632 Im Kirchenkampf aber erklärt er: »Ich bin nicht ein Reformator, auch nicht
ein spekulativer, tiefsinniger Geist, ein Seher, ein Prophet, nein, ich bin ein in selte-
nem Maße ausgeprägtes Polizeitalent.«633 »Ich bin kein Christ - und unglücklicher-
weise kann ich es offenbar machen, daß die andern das auch nicht sind, ja noch we-
niger als ich.«634
Was war denn Kierkegaard als der, der sich im Kirchenkampf vollendete? Er sagt:
»Es gibt in den 1800 Jahren der Christenheit überhaupt nichts Entsprechendes, kein
Gegenstück zu meiner Aufgabe [«]635... [»]Denn alles, was bisher an Außerordentlichem
dagewesen ist, hat gewirkt in Richtung, das Christentum auszubreiten; und meine Auf-
gabe ist in Richtung, einer lügnerischen Ausbreitung haltzugebieten.«636
»Das einzige Gegenstück ist Sokrates... Du edler Einfältiger des Altertums. Du, der
einzige Mensch, den ich bewundernd als Denker anerkenne ... der einzige Märtyrer
der Gedanklichkeit unter den Menschen, ebenso groß als Charakter wie als Denker.«637
Fragen wir Kierkegaard, den Kämpfer gegen die Kirche: Was soll geschehen? Was
kann geschehen? Werden Forderungen von ihm aufgestellt? Niemals hat er Vorschläge
zur Reform der Kirche gemacht. Die Forderung ist eine einzige: Redlichkeit. Die Red-
lichkeitsforderung aber wird im Laufe des Kampfes gesteigert in der Weise, wie das
Nein zur Unwahrhaftigkeit zu vollziehen sei. Zuerst verlangte Kierkegaard nur das Ein-
geständnis der Kirche, daß sie nicht das Christentum des Neuen Testaments vertrete,
sondern daß sie eine Abmilderung und Anpassung sei, um die göttliche Lenkung ent-
scheiden zu lassen, ob sie das annehme. Dann hielt er aber auch solches Eingeständ-
nis für vergeblich. Die Kirche ist so völlig unchristlich, daß sie verschwinden muß.
Der Staat soll aufhören, die Pfarrer zu bezahlen. Zuletzt ruft er nicht mehr der Kirche,
sondern jedem Einzelnen zu (im »Mitternachtsschrei«): »Dadurch, daß Du es bleiben
läßt, am öffentlichen Gottesdienst teilzunehmen, wie er jetzt ist (mit dem Anspruch,
das Christentum des Neuen Testaments zu sein), hast Du beständig eine, und zwar eine
schwere Schuld weniger. Du nimmst nicht daran teil, Gott zum Narren zu halten.«638
(2) Kritische Erörterungen zu Kierkegaard
(a) Kierkegaards These vom Christentum des Neuen Testaments trifft wesentliche
Züge, aber keineswegs das Ganze des Neuen Testa|ments und durchaus nicht das Ganze
der Bibel. Wie überall in der Bibel, so sind auch im Neuen Testament die Widersprü-
che. Kierkegaard folgen wir nicht, wenn er den einen Zug - die Menschwerdung Got-
tes - für das Wesen des Ganzen erklärt. Wir folgen ihm nicht, wenn er das historische
Studium des Neuen Testaments verwirft. Dadurch verschließt er den Blick für all das,
was seiner konstruktiven Glaubensdichtung nicht gemäß ist.
Wenn Kierkegaards Forderung, dieses Christentum des Neuen Testaments sei das
Christentum selber, die biblische Religion selber, nicht anzuerkennen ist, so bedeutet
doch die Klarheit seines Zeigens, daß jeder vor die Entscheidung gestellt wird, ob er
dies als das Eigentliche des Christentums glauben wolle und könne. Um diese Entschei-

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