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Jaspers, Karl; Weidmann, Bernd [Hrsg.]; Fuchs, Thomas [Hrsg.]; Halfwassen, Jens [Hrsg.]; Schulz, Reinhard [Hrsg.]; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Hrsg.]; Akademie der Wissenschaften zu Göttingen [Hrsg.]; Schwabe AG [Hrsg.]
Karl Jaspers Gesamtausgabe (Abteilung 1, Band 13): Der philosophische Glaube angesichts der Offenbarung — Basel: Schwabe Verlag, 2016

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https://doi.org/10.11588/diglit.51323#0617
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Der philosophische Glaube angesichts der Offenbarung

(2) Ein Zeichen dieser Möglichkeit ist, daß auf beiden Seiten die Verachtung um-
schlagen kann in ein Bewußtsein des Mangels gegenüber dem Andern: Wie schön wäre
es, so glauben zu können, daß Gott gegenwärtig ist in der Welt, er leibhaftig mir hilft
(aber - sagt der Philosophierende - ich kann das nicht glauben und habe nur gleich-
sam ein Heimweh). Wie schön wäre es, so aus dem Ursprung, wie der Philosoph, den-
ken zu können und dadurch die Ruhe in der Transzendenz zu finden (aber - sagt der
Offenbarungsgläubige - mir gelingt dies Denken nicht und an gewissen Grenzen ver-
biete ich es mir, da es stören könnte, woraus ich glaubend lebe). So zeigt sich, daß der
Mensch als Einzelner zu beiden Weisen des Glaubens die Möglichkeit in sich erfährt.
Daß es dem, der auf der einen Seite steht, geschehen kann, den eigenen Glauben
angesichts des anderen fragwürdig zu finden, ist ein Ereignis, das der Offenbarungs-
gläubige »Anfechtung« nennt. Es ist dem philosophisch Glaubenden, in einem ande-
ren Sinn, nicht weniger gefährlich. Unbekannt ist es nur den gedankenlosen Aufklä-
rern und Positivisten, den konventionell, ob kirchlich oder nicht kirchlich Lebenden
in ihrer dumpfen Selbstsicherheit.
Den Offenbarungsgläubigen ergreift die Anfechtung, wenn er die Offenbarung in
ihrer konkreten Gestalt, infolge der bezwingend quälenden Macht des Philosophie-
rens, nicht mehr eigentlich glauben kann: nicht die Verheißungen Gottes, nicht die
Menschwerdung Gottes, nicht die Auferstehung Christi, nicht die Kirche als corpus
mysticum Christi, nicht die Sakramente. Die Anfechtung wird überwunden durch die
tatsächlich gegenwärtige, mit der von Beginn des eigenen Bewußtwerdens an erfahre-
nen und eingeprägten Wirklichkeit Gottes im Gottesdienst, im Gebet, in der täglich
begegnenden Heiligkeit der kirchlichen Erscheinungen. Gott selber scheint die An-
fechtung zu überwinden.
Der philosophisch Glaubende kennt die Anfechtung nicht weniger. Es ist unend-
lich schwer, vor der verborgenen Transzendenz in der Ungewißheit zu leben, das Sich-
ausbleiben zu ertragen, das Nichtliebenkönnen, die Leere des Nichtglaubens, wenn
sie überfallen. Wie befreiend wäre es dann, wenn Gott selbst sich zeigte, die absolute
Sicherheit böte und mich an der Hand führte! Wie ziehen die Leibhaftigkeit im kirch-
535 liehen Gottesdienst, die Heiligung des Lebens, die | Durchdringung des Kosmos, der
Landschaft, der Umwelt, des menschlichen Tuns durch das kirchlich bestätigte Hei-
lige an! Die Redlichkeit zwingt, es nicht ästhetisch zu genießen, sondern scheu bei-
seite zu treten, zu verzichten. Aber der Zauber ist so groß, daß er nur durch die bedin-
gungslose, von der Transzendenz auferlegte Wahrhaftigkeit als Anfechtung erkannt
und überwunden werden kann.
Die Überwindung der Anfechtungen bringt beide Seiten, wenn sie ehrlich sind,
dazu, den Glauben des anderen anzuerkennen.
Wird die Anfechtung des Offenbarungsgläubigen durch die Klarheit angesichts der
für ihn wirklichen Offenbarung überwunden zur Ruhe vor dieser Wahrheit, so wird die
Folge eine offene und tiefe Menschlichkeit sein. Denn was für den Glaubenden ihm ge-
 
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