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Philosophie und Offenbarungsglaube
Jaspers
Sie berühren einen ganz wesentlichen Punkt. Ich glaube, daß darüber mit dem Offenba-
rungsglauben eine völlige Einigung möglich ist. Sie erinnern an die geläufige Unterschei-
dung von Philosophie, die nicht Glaube sei, sondern Denken und Erkennen. Aber alle
Theologie ist nicht weniger mit Denken und Erkenntnis beschäftigt als die Philosophie.
Es kommt darauf an, was Sache des Denkens ist: Gegenstände in der Welt oder der Ur-
sprung, aus dem ich lebe. Theologie und Philosophie haben es beide nicht zu tun mit Ge-
genständen in der Welt, die die Wissenschaften erkennen, sondern mit jenem Ursprung,
37 aus dem wir leben. Darum ist der Gegensatz nicht der | von Glaube und Erkenntnis, son-
dern ist der Unterschied des Glaubens, der denkend sich zum Bewußtsein bringt und
dann Glaubenserkenntnis heißt, ob philosophische oder theologische. Dieses Denken
und Erkennen in Philosophie und Theologie ist grundsätzlich unterschieden vom wis-
senschaftlichen Erkennen. Identifizieren wir Wissenschaft mit methodischem Denken,
so sind auch Theologie und Philosophie Wissenschaften. Identifizieren wir aber Wissen-
schaft mit dem Erkennen, das über das Logisch-Methodische hinaus zwingend und all-
gemeingültig ist für jeden Denkenden, dann sind weder Theologie noch Philosophie
Wissenschaften. Will man weiterhin beides Wissenschaft nennen, so scheint mir das ir-
reführend. Man soll sich darüber klar sein, was man im Denken erreichen kann und will.
Nun halte ich es für ein großes geistiges Ereignis erst der letzten Jahrhunderte, daß
Wissenschaft in ihrer Reinheit, nämlich als das methodische Erkennen, das zwingend
und allgemeingültig für alle ist und faktisch sich auch als Erkenntnisinhalt darum
durchsetzt, ich sage, daß dieser Weg zur Reinheit der Wissenschaft Sache allein der
letzten Jahrhunderte ist.
38 | Das Dasein der Wissenschaft hat erhebliche Folgen für den Inhalt aller Glaubens-
aussagen, seien sie theologisch oder philosophisch. Falls diese Aussagen sich auf Rea-
litäten in der Welt beziehen, sind diese Realitäten nach wissenschaftlicher Erkenntnis
zu beurteilen. Es ist nicht möglich, ohne Unwahrhaftigkeit dem, was wissenschaftlich
nachgewiesen ist, durch Behauptungen über Realitäten zu widersprechen. Der Glaube
ist stets unterlegen, sobald er sich durch Realitäts- oder durch logisch zwingende Aus-
sagen dem entgegensetzt, was reine Wissenschaft hervorbringt.
Einige Beispiele. Die Glaubensaussage, die Welt sei vor 6000 Jahren geschaffen wor-
den, ist nachweislich falsch. Diese Aussage läßt sich nur halten durch so merkwürdige
Gedanken wie die Schellings, der etwa folgendes sagte: Vor 6000 Jahren ist die Welt
geschaffen worden, und zwar so, daß zugleich mit ihrer Schöpfung eine Vergangen-
heit in den Versteinerungen geschaffen wurde, die als Vergangenheit niemals Gegen-
wart gewesen ist. Also eine geschaffene Vergangenheit.674 Heute hat alle Theologie die
39 Schöpfungsgeschichte nicht mehr als Glaubensinhalt | festgehalten, sondern hat sich
auf die These zurückgezogen: die Bibel enthält keine Naturwissenschaft. Vor 100 Jah-
ren war dies noch ein großes Problem und Sache des Kampfes.
Philosophie und Offenbarungsglaube
Jaspers
Sie berühren einen ganz wesentlichen Punkt. Ich glaube, daß darüber mit dem Offenba-
rungsglauben eine völlige Einigung möglich ist. Sie erinnern an die geläufige Unterschei-
dung von Philosophie, die nicht Glaube sei, sondern Denken und Erkennen. Aber alle
Theologie ist nicht weniger mit Denken und Erkenntnis beschäftigt als die Philosophie.
Es kommt darauf an, was Sache des Denkens ist: Gegenstände in der Welt oder der Ur-
sprung, aus dem ich lebe. Theologie und Philosophie haben es beide nicht zu tun mit Ge-
genständen in der Welt, die die Wissenschaften erkennen, sondern mit jenem Ursprung,
37 aus dem wir leben. Darum ist der Gegensatz nicht der | von Glaube und Erkenntnis, son-
dern ist der Unterschied des Glaubens, der denkend sich zum Bewußtsein bringt und
dann Glaubenserkenntnis heißt, ob philosophische oder theologische. Dieses Denken
und Erkennen in Philosophie und Theologie ist grundsätzlich unterschieden vom wis-
senschaftlichen Erkennen. Identifizieren wir Wissenschaft mit methodischem Denken,
so sind auch Theologie und Philosophie Wissenschaften. Identifizieren wir aber Wissen-
schaft mit dem Erkennen, das über das Logisch-Methodische hinaus zwingend und all-
gemeingültig ist für jeden Denkenden, dann sind weder Theologie noch Philosophie
Wissenschaften. Will man weiterhin beides Wissenschaft nennen, so scheint mir das ir-
reführend. Man soll sich darüber klar sein, was man im Denken erreichen kann und will.
Nun halte ich es für ein großes geistiges Ereignis erst der letzten Jahrhunderte, daß
Wissenschaft in ihrer Reinheit, nämlich als das methodische Erkennen, das zwingend
und allgemeingültig für alle ist und faktisch sich auch als Erkenntnisinhalt darum
durchsetzt, ich sage, daß dieser Weg zur Reinheit der Wissenschaft Sache allein der
letzten Jahrhunderte ist.
38 | Das Dasein der Wissenschaft hat erhebliche Folgen für den Inhalt aller Glaubens-
aussagen, seien sie theologisch oder philosophisch. Falls diese Aussagen sich auf Rea-
litäten in der Welt beziehen, sind diese Realitäten nach wissenschaftlicher Erkenntnis
zu beurteilen. Es ist nicht möglich, ohne Unwahrhaftigkeit dem, was wissenschaftlich
nachgewiesen ist, durch Behauptungen über Realitäten zu widersprechen. Der Glaube
ist stets unterlegen, sobald er sich durch Realitäts- oder durch logisch zwingende Aus-
sagen dem entgegensetzt, was reine Wissenschaft hervorbringt.
Einige Beispiele. Die Glaubensaussage, die Welt sei vor 6000 Jahren geschaffen wor-
den, ist nachweislich falsch. Diese Aussage läßt sich nur halten durch so merkwürdige
Gedanken wie die Schellings, der etwa folgendes sagte: Vor 6000 Jahren ist die Welt
geschaffen worden, und zwar so, daß zugleich mit ihrer Schöpfung eine Vergangen-
heit in den Versteinerungen geschaffen wurde, die als Vergangenheit niemals Gegen-
wart gewesen ist. Also eine geschaffene Vergangenheit.674 Heute hat alle Theologie die
39 Schöpfungsgeschichte nicht mehr als Glaubensinhalt | festgehalten, sondern hat sich
auf die These zurückgezogen: die Bibel enthält keine Naturwissenschaft. Vor 100 Jah-
ren war dies noch ein großes Problem und Sache des Kampfes.