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Jaspers, Karl; Weidmann, Bernd [Hrsg.]; Fuchs, Thomas [Hrsg.]; Halfwassen, Jens [Hrsg.]; Schulz, Reinhard [Hrsg.]; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Hrsg.]; Akademie der Wissenschaften zu Göttingen [Hrsg.]; Schwabe AG [Hrsg.]
Karl Jaspers Gesamtausgabe (Abteilung 1, Band 13): Der philosophische Glaube angesichts der Offenbarung — Basel: Schwabe Verlag, 2016

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https://doi.org/10.11588/diglit.51323#0641
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Philosophie und Offenbarungsglaube

nichts, wenn ich keinerlei Ansatz zur empirischen Erforschung solcher Erfindungs-
prozesse habe. Es ist für uns immer ein geheimnisvoller Tatbestand der Geschichte
des Menschen. Durch einen Sprung tritt in diese Geschichte ein, was zugleich als
menschliche Tat und als Gabe der Transzendenz aufgefaßt werden muß. Der plötzliche
Beginn etwa der ägyptischen Geschichte zugleich im Tempelbau, in der Plastik, in der
Schrifterfindung, in den Staatsformen, in der Weisheit, vor der alle ägyptische Vorge-
schichte, von der wir Kenntnis haben, etwas ganz anderes ist. Dieses plötzliche erste
anschaulich bekannte Ereignis der Geschichte ist in der Tat wie ein Wunder, ein
Sprung, und andere Sprünge gingen schon voran.
Dazu gehört die Offenbarung des Sinai, die aus allen psychologischen und
5P soziologischen Voraus| Setzungen unbegreifliche Weise des Lichtes, das in den gro-
ßen Propheten bis zu Jeremia aufgeht, und das Auftreten des Sokrates, des Jesus, des
Buddha. Immer ist es dasselbe: aus den Voraussetzungen nachträglich nie begreiflich,
niemals in einer Gegenwart als Zukunft vorauszusehen, geschehen diese unerhörten
Sprünge geistiger Tiefe. In gemindertem Maße geht es bis zur Erfahrung jedes einzel-
nen Menschen, wenn er im Sprung plötzlich in früher Jugend schon sich irgendei-
nes Endgültigen bewußt wird, etwa, was er nicht aufgeben wird, oder wenn er wirk-
lich liebt. Wer schreibt die Chiffern?, fragen Sie. Chiffern? Lesen, Hören sind selber
Gleichnisse. Daß wir nicht wissen, wer sie schreibt, ja, daß wir zur Einsicht kommen,
diese Frage sei ein Verkennen des Gleichnischarakters des Chiffernredens, scheint mir
so wesentlich zu sein wie der Schwebecharakter der Chiffern selbst. Denn dieses, was
wir durch das Gleichnis von Chiffer und Sprache benennen, ist die Wirklichkeit, die
uns in dem, was wir dann zusehend als Chiffer auffassen, nie erschöpft ist.

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Nun gibt es viele Chiffern, endlos viele Chiffern. Wie entscheidet sich, welche Chiffer
recht hat, welche für mich wahr ist? Es findet ein Kampf statt - wie Sie schreiben - zwi-
schen den Chiffern. Wie vollzieht sich dieser Kampf, und wie kommt es trotz dieses
Kampfes zur Kommunikation?
Jaspers
Das Recht einer Chiffer ist nicht allgemeingültig. Wo sie gehört wird, hilft sie dem
Selbstbewußtsein des Unbedingten. Sie ist nicht ein Objekt, an das ich mich halten
kann, sie ist immer nur mit dem, was ich bin und was ich lebe. Daher ist keine Chiffer
als solche absolut, sondern nur Anstoß für die Kraft des Unbedingten. Vielmehr tre-
ten Chiffern, die als solche absolut werden wollen, ohne Ausnahme in Kampf. Neh-
men wir wieder als Beispiel die Zehn Gebote. Ist die Sinai-Chiffer die letzte Instanz, die
einzige Instanz, die Chiffer Gottes in dem Ereignis dieses Sinai-Gebotes die einzige
 
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