Philosophie und Offenbarungsglaube
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Chiffer der Transzen|denz? Schon die Juden des Alten Testamentes und in der Folge 61
die Juden, die das Neue Testament geschrieben haben, sprachen von der Liebe.679 Au-
gustin sah den liebenden Gott, den er seinerseits liebte im Zusammenhang mit der
ganzen Überlieferung der Bibel, nicht als den zornigen Gott, der gefürchtet wurde we-
gen seiner Gerechtigkeit und seiner Strenge auf Grund der Zehn Gebote. Aus dieser
Liebe ist das Wort des Augustin möglich geworden: »Liebe und tue, was du willst.«680 -
Das ist etwas völlig anderes. Es scheint wie eine Empörung gegen die Gesetzlichkeit
des nur Moralischen. Aber ein unerläßlicher Kampf, bei dem man nur durch eine fal-
sche Harmonie sagen kann, die vollendete Liebe schlösse die Gesetzlichkeit in sich. Es
ist ein Kampf zwischen Geschichtlichkeiten, die man nicht in allgemeine Form fassen
kann, die aber immer wieder auftreten werden: die Strenge des moralischen Gesetzes
und die Liebe, die sich unter kein Gesetz beugt, und der Streit zwischen beiden in ei-
ner Chiffern-Sprache, die auf beiden Seiten immer reicher entwickelt werden kann.
|Zahrnt
62
Wenn wir von Chiffern sprechen, in denen Transzendenz spricht, dann kommen wir
um die Frage nicht herum: Ist auch Gott, genauer, der eine persönliche Gott, den die
biblische Offenbarung bezeugt, eine Chiffer?
Jaspers
Ich kann nicht anders: Der persönliche Gott ist eine Chiffer. Die Transzendenz in der
Leibhaftigkeit eines Persönlichseins einfangen zu wollen, würde die Transzendenz ver-
engen. Sie ist mehr als Persönlichkeit, nicht etwa weniger, wie man gewöhnlich zu mei-
nen scheint. Sie ist das, was Persönlichkeit möglich macht. Aber diese Chiffer »Gott« ist
von hohem Gewicht in mehrerer Hinsicht. Einmal: Die Form der Besinnung, um den
Grund des eigenen Tuns und der inneren Verfassung zu finden, kann das Gebet sein,
nicht das Gebet für endliche Zwecke in der Welt, sondern wie das Gebet des Sokrates um
die Reinheit der Seele,681 wie das Gebet des Dankes, wie das Gebet um die innere Kraft im
Sich-|geschenkt-werden. Nicht jeder betet. Man kann jede eigentliche philosophische 63
Besinnung Gebet nennen, aber eigentliches Gebet ruft die Chiffer eines persönlichen
Gottes notwendig hervor und setzt sie voraus. In großer Not, in Höhepunkten der Liebe,
in dem Augenblick lebenbestimmender Entschlüsse ist dieses Gebet, und sei es ohne
Worte, in bezug auf eine als Person fühlbare Transzendenz eine für uns als endliche sinn-
liche Wesen wahre Form in bezug auf Transzendenz durch Chiffern. Es ist das nicht von
der Bedeutung, daß es also nur Chiffer sei, sondern darin spricht Wirklichkeit, die Wirk-
lichkeit der Transzendenz durch die Chiffer. Das Zweite ist, daß die Chiffer des persön-
lichen Gottes die Voraussetzung ist, um in der zur Verzweiflung bringenden Welt, im
Leiden der Schuldlosigkeit, im Unsinn der Ereignisse die Instanz zu werden, vor der nicht
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Chiffer der Transzen|denz? Schon die Juden des Alten Testamentes und in der Folge 61
die Juden, die das Neue Testament geschrieben haben, sprachen von der Liebe.679 Au-
gustin sah den liebenden Gott, den er seinerseits liebte im Zusammenhang mit der
ganzen Überlieferung der Bibel, nicht als den zornigen Gott, der gefürchtet wurde we-
gen seiner Gerechtigkeit und seiner Strenge auf Grund der Zehn Gebote. Aus dieser
Liebe ist das Wort des Augustin möglich geworden: »Liebe und tue, was du willst.«680 -
Das ist etwas völlig anderes. Es scheint wie eine Empörung gegen die Gesetzlichkeit
des nur Moralischen. Aber ein unerläßlicher Kampf, bei dem man nur durch eine fal-
sche Harmonie sagen kann, die vollendete Liebe schlösse die Gesetzlichkeit in sich. Es
ist ein Kampf zwischen Geschichtlichkeiten, die man nicht in allgemeine Form fassen
kann, die aber immer wieder auftreten werden: die Strenge des moralischen Gesetzes
und die Liebe, die sich unter kein Gesetz beugt, und der Streit zwischen beiden in ei-
ner Chiffern-Sprache, die auf beiden Seiten immer reicher entwickelt werden kann.
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Wenn wir von Chiffern sprechen, in denen Transzendenz spricht, dann kommen wir
um die Frage nicht herum: Ist auch Gott, genauer, der eine persönliche Gott, den die
biblische Offenbarung bezeugt, eine Chiffer?
Jaspers
Ich kann nicht anders: Der persönliche Gott ist eine Chiffer. Die Transzendenz in der
Leibhaftigkeit eines Persönlichseins einfangen zu wollen, würde die Transzendenz ver-
engen. Sie ist mehr als Persönlichkeit, nicht etwa weniger, wie man gewöhnlich zu mei-
nen scheint. Sie ist das, was Persönlichkeit möglich macht. Aber diese Chiffer »Gott« ist
von hohem Gewicht in mehrerer Hinsicht. Einmal: Die Form der Besinnung, um den
Grund des eigenen Tuns und der inneren Verfassung zu finden, kann das Gebet sein,
nicht das Gebet für endliche Zwecke in der Welt, sondern wie das Gebet des Sokrates um
die Reinheit der Seele,681 wie das Gebet des Dankes, wie das Gebet um die innere Kraft im
Sich-|geschenkt-werden. Nicht jeder betet. Man kann jede eigentliche philosophische 63
Besinnung Gebet nennen, aber eigentliches Gebet ruft die Chiffer eines persönlichen
Gottes notwendig hervor und setzt sie voraus. In großer Not, in Höhepunkten der Liebe,
in dem Augenblick lebenbestimmender Entschlüsse ist dieses Gebet, und sei es ohne
Worte, in bezug auf eine als Person fühlbare Transzendenz eine für uns als endliche sinn-
liche Wesen wahre Form in bezug auf Transzendenz durch Chiffern. Es ist das nicht von
der Bedeutung, daß es also nur Chiffer sei, sondern darin spricht Wirklichkeit, die Wirk-
lichkeit der Transzendenz durch die Chiffer. Das Zweite ist, daß die Chiffer des persön-
lichen Gottes die Voraussetzung ist, um in der zur Verzweiflung bringenden Welt, im
Leiden der Schuldlosigkeit, im Unsinn der Ereignisse die Instanz zu werden, vor der nicht