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Jaspers, Karl; Weidmann, Bernd [Editor]; Fuchs, Thomas [Editor]; Halfwassen, Jens [Editor]; Schulz, Reinhard [Editor]; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Editor]; Akademie der Wissenschaften zu Göttingen [Editor]; Schwabe AG [Editor]
Karl Jaspers Gesamtausgabe (Abteilung 1, Band 13): Der philosophische Glaube angesichts der Offenbarung — Basel: Schwabe Verlag, 2016

DOI Page / Citation link: 
https://doi.org/10.11588/diglit.51323#0646
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Philosophie und Offenbarungsglaube

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ich der sozialen Seite des Glaubens, die Sie behaupten, ganz | zustimme, erscheint es 72
mir wünschbar, daß diese soziale Seite sich auch beschränke auf die Gemeinschaft in
der Überlieferung, auf den gegenwärtigen Vollzug der religiösen Verfassung, auf die
Kommunikationen der Aneignung des biblischen Glaubens.

Zahrnt
Was den Theologen an Ihrem Buch überrascht und mehr noch als überrascht, ist, daß
Sie, der Philosoph, der von sich behauptet, keinen Zugang zum Offenbarungsglauben
zu haben, nicht nur diesen Offenbarungsglauben ernst nehmen, sondern auch die Kir-
che und ihren zukünftigen Weg in Ernst und Sorge mitbedenken.
Die Kirchen sind die Organisationen der Glaubensüberlieferung. Was in ihnen geschieht,
-was und -wie sie verkündigen, wie sie ihr Denken formen, wie sie ihre Symbole gestalten, ihren
Kultus vollziehen, das ist von größter Bedeutung für das gesamte Abendland. Dort könnte die
Wahrhaftigkeit und der Ernst der Einzelnen den Boden einer großen Gemeinschaft haben.
Dort könnten, geschart um den Kultus, die Gläubigen, Pfarrer und Theologen bezeugen, wie 73
sie in der Gegenwärtigkeit des Ewigen existieren.
Was aus den Kirchen wird, entscheidet vielleicht das Schicksal des Abendlandes. In dem
Maße als kirchliche Dinge zu Kulissen des Lebens werden, in Konventionen als Gewohnhei-
ten zu bloß äußerlicher Wiederholung sich verflachen, nimmt ihre Kraft ab, auch wenn die
meisten Menschen Kirchenmitglieder bleiben. Wächst dabei die Unwahrhaftigkeit, so ist voll-
ends der Boden zu jedem Unheil bereitet. Daher die große Sorge um die Kraft und Wahrhaf-
tigkeit des Glaubens in den Kirchen.
Philosophie ist im Unterschied vom Offenbarungsglauben ohne Organisation, ist eine zer-
streute Wirklichkeit in Einzelnen, ohne die Macht, die von dem Hintergrund einer Kirche, ei-
nes Staats, einer Partei, einer strukturierten Massenbewegung ausgeht. Was Philosophen den-
ken, gilt daher als »privat«. Der Anspruch, in der philosophia perennis zu stehen, mag von
ihnen erhoben werden. Er wird nicht anerkannt.
Wer philosophiert, kann es nicht auf Grund einer Vollmacht tun, die ihm von einer In-
stanz in der Welt erteilt ist. Er tut es auf eigene Ver\antwortung vor einer Instanz, die er sich 74
selber setzt, indem er sie vorfindet im Philosophieren der Jahrtausende.
Wenn er von Möglichkeiten in den Kirchen spricht, so muß er wissen, daß ihm keinerlei
Vollmacht eingeräumt wird. Aber es liegt in der Natur der Sache, daß er in der Teilnahme an
den ernsten Dingen, die in den Kirchen und durch sie geschehen oder nicht geschehen, seine
Gedanken dorthin richtet. Denn dort kann zur Geltung gebracht werden, was das künftige
Menschsein bestimmt (Seite 477-478).
Sie schreiben zwar, daß es immer mißlich sei, wenn der Philosoph dem Theologen
dreinrede, aber Sie tun es, und es ist gut, daß Sie es tun. Dabei zieht sich durch alles,
was Sie sagen, als Leitfaden die immer wiederkehrende Erkenntnis und Forderung einer
Wandlung und Erneuerung des Christentums von seinem Grunde her.
 
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