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Jaspers, Karl; Weidmann, Bernd [Hrsg.]; Fuchs, Thomas [Hrsg.]; Halfwassen, Jens [Hrsg.]; Schulz, Reinhard [Hrsg.]; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Hrsg.]; Akademie der Wissenschaften zu Göttingen [Hrsg.]; Schwabe AG [Hrsg.]
Karl Jaspers Gesamtausgabe (Abteilung 1, Band 13): Der philosophische Glaube angesichts der Offenbarung — Basel: Schwabe Verlag, 2016

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https://doi.org/10.11588/diglit.51323#0647
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Philosophie und Offenbarungsglaube

Zeitliche Dauer ist kein Beweis für Wahrheit. Ägyptische Religion und Konfuzianismus
haben länger gedauert als das Christentum bis heute und sind nicht mehr da. Der Buddhis-
mus ist ein halbes Jahrtausend älter als das Christentum, beide sind noch da. Aber beide ste-
75 hen heute vor | derselben Frage, ob ihr Ende bevorstehe oder ob sie einen radikalen Wandel
vollziehen.
Christentum wie Buddhismus haben in ihrer Realität außerordentliche Wandlungen
durchgemacht. Unter den Bedingungen des technisch-wissenschaftlichen Zeitalters können
sie nicht bleiben, wie sie sind. Die Wandlung ihrer Erscheinung wird tiefer sein als irgendeine
der früheren, oder sie sterben ab. Es wird wie eine Neugeburt sein, wenn der eigentliche Ernst
die Fassade der religiösen Konventionen und die Gewohnheiten der Völker durchbricht. Da-
durch könnte das Versinken des Menschen, das wir heute beobachten und in der Zukunft
schaudernd für möglich halten, aufgehalten und schließlich durch eine neue große, für uns
noch nicht angemessen vorstellbare Gestalt des Menschseins überwunden werden ...
Ich bin überzeugt, daß die Substanz des biblischen Glaubens in der für sie gegenwärtig be-
drohlichen Situation eine so radikale Verwandlung ihrer Erscheinung in Sprache, Verkündi-
gung, Lebenspraxis finden wird, daß diese Verwandlung für die in den überlieferten Formen
76 Gebundenen wie die Zerstörung des kirchlichen | Glaubens aussehen kann. Die Kirchen blei-
ben nur dann überzeugend, wenn sie diese Verwandlung aus der Liefe biblischen Ernstes voll-
ziehen und wenn dieser in ihnen, die Gehäuse ihrer Dogmen und Institutionen einschmelzend,
gegenwärtige Sprache gewinnt.
Wenn ich die Brüchigkeit der modernen protestantischen Theologie zu sehen meine, so er-
scheint mir diese selber eine Chance. Die Brüchigkeit zusammen mit der grundsätzlichen
Glaubensfreiheit des Protestantismus könnte grade hier, in dieser Welt des kirchlich und in
der Glaubenspraxis heute schwächsten Christentums, zur neuen Gestalt gelangen.
Alles, was ich sage, ist nur ein Denken ohne Handeln. In der Kirche selber müßte es getan
und damit zugleich besser gedacht werden als ich es vermag. Nur praktisch, durch die Verwirk-
lichungin Gemeinschaft, kann in Seelsorge, Predigt, Kultus geschehen, woraufhin das Philo-
sophieren zu denken versucht (Seite 82, 478).
Worin hat nun nach Ihrer Ansicht die Wandlung des Christentums zu bestehen?
Sie sprechen in Ihrem Buch von drei Verzichten, die der kirchliche Offenbarungs-
77 glaube zu leisten hat, wenn | er der gegenwärtigen Situation gerecht werden und zu
neuem Ernst gelangen will. Worin bestehen diese drei Verzichte?
Jaspers
Sie sprechen von der Hoffnung der Wandlung. Bevor ich über die Aspekte dieser Hoff-
nung und die damit verknüpften Verzichte rede, einiges Grundsätzliche: Hoffnung
hat nur Kraft, wenn sie in der eigenen Tätigkeit ihren Sinn erfährt. In der verschwin-
dend winzigen Erfahrung des Einzelnen hatte ich den Impuls, in meinem Leben und
im nachfolgenden Denken teilzunehmen an einer Wandlung der Philosophie. Was
 
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