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54 Die Geburt der Tragödie

der Zeit der Perserkriege, die für Athen siegreich endeten, worauf bald die
Perikleische Zeit als Gipfel-Epoche folgte, und dem Ende des für Athen desast-
rösen Peloponnesischen Krieges erstreckt sich ein Zeitraum von zwei Genera-
tionen. Die Generation des Aristophanes, die noch Athens Blütezeit erlebt hatte
und dann unter dem Eindruck der Katastrophe stand, suchte nicht nur - wie
der Geschichtsschreiber Thukydides - nach politischen, militärischen und
massenpsychologischen Ursachen des Niedergangs, sondern auch nach geisti-
gen Ursachen. Dies tat Aristophanes, indem er Euripides und Sokrates als zer-
setzende Geister an den Pranger stellte. Die Konfrontation des Euripides mit
Aischylos, die Aristophanes als Kontrahenten eines posthumen Streitgesprächs
auf die Bühne bringt (nicht ohne auch Aischylos zu karikieren), benutzte er,
um einen Niedergang der Tragödie bei Euripides zu behaupten: einen geistigen
und künstlerischen Niedergang, der Athens politischen Niedergang nicht nur
spiegelt, sondern von den Grundtendenzen her für ihn mitverantwortlich ist.
Zu diesen Grundtendenzen rechnete Aristophanes bei Euripides zwar kei-
neswegs die zurückgehende Bedeutung des Chors, wie dies N.s primärem
Erklärungsmuster entsprochen hätte, mit dem er ebenso wie mit der „Geburts-
hypothese“ durch Wagner vertraut war. Dieser hatte schon früh, im Jahre 1849,
notiert: „Geburt aus der musik [sic]: Aeschylos. Decadence - Euripides“
(Richard Wagner: Entwürfe. Gedanken. Fragmente. Aus nachgelassenen Papie-
ren zusammengestellt. Leipzig 1885, S. 68). Die anderen Tendenzen jedoch, die
Aristophanes als Fermente des Niedergangs wertete, griff N. umso entschiede-
ner auf, denn sie entsprachen der Aufklärungsfeindschaft, die er in seinem
Frühwerk noch kultivierte. Auch in der Fachliteratur seiner Zeit konnte N. die
Reflexe der von Aristophanes inszenierten Abwertung des Euripides finden,
nachdem schon August Wilhelm Schlegel in seinen Vorlesungen über dramati-
sche Kunst und Literatur das von Aristophanes vorgegebene Niedergangs-
Schema übernommen und aus „idealischer“ und romantischer Aufklärungs-
feindschaft das negative Urteil sogar noch verschärft hatte. Goethe kritisierte
in einem seiner Gespräche mit Eckermann (28. März 1827) A. W. Schlegel scharf
als „Persönchen“, das nicht in der Lage sei, „so hohe Naturen [wie Euripides]
zu begreifen und gehörig zu schätzen“. N., der Schlegels über Jahrzehnte hin-
weg immer neu aufgelegte und außerordentlich einflußreiche Vorlesungen
kannte, fand gerade in der Euripides-Vorlesung auch den Ansatzpunkt für
seine Grundoperation, für die Analogisierung antiker Phänomene mit denen
seiner eigenen Zeit (explizit geht er auf dieses Verfahren in der Schrift Richard
Wagner in Bayreuth ein, KSA 1, 446, 19-447, 11). Dadurch diente die Beschäfti-
gung mit der Antike als Medium moderner Kulturkritik. Schon Schlegel betonte
diesen aktuellen Bezug seiner Euripides-Darstellung (vgl. den Überblickskom-
mentar zu GT 11, S. 222). N. selbst hatte bereits in einem Brief an den Freund
 
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