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Überblickskommentar: Konzeption 57

wie er im Hinblick auf das zeitgenössische Epigonentum sagt. N. benutzt die
metaphysisch-„dionysischen“ Voraussetzungen, um seine Kulturkritik sowohl
zu legitimieren wie zu radikalisieren.
In gesteigerter Form prägt sich diese Kulturkritik als Kulturkampf aus. Die
Vorstellung eines solchen Kampfes verbindet sich zunächst vor allem mit N.s
Engagement gegen Wagners zahlreiche Kritiker sowie für dessen Unternehmen,
in Bayreuth eine Institution zu schaffen, die seinem Werk und ihm selbst
ideale Möglichkeiten bieten sollte. In engem Anschluß vor allem an Wagners
noch revolutionär inspirierte Hauptschrift Oper und Drama (1851) interpretiert
N. dieses Engagement sowohl in der Geburt der Tragödie wie in der vierten
Unzeitgemäßen Betrachtung: Richard Wagner in Bayreuth als Kampf gegen die
bestehende Zivilisation und für eine neue, authentische Kultur. Schon im Vor-
wort an Richard Wagner bezeichnet er diesen abschließend selbst als „Vor-
kämpfer“ (24, 17); später, im Haupttext, spricht er von „ungeheuren Kämpfen
und Uebergängen“ und ruft aus: „Ach! Es ist der Zauber dieser Kämpfe, dass,
wer sie schaut, sie auch kämpfen muß!“ (102, 19-21), um alsbald fortzufahren:
„wir müssen mitten hinein in jene Kämpfe treten, welche [...] in den höchsten
Sphären unserer jetzigen Welt gekämpft werden“ (102, 30-103, 2). Wie sehr er
auch seine eigenen Schriften und die in ihnen formulierten Thesen als Beiträge
zu diesem Kampf versteht, verraten Aussagen wie: „Bevor wir uns mitten in
jene Kämpfe hineinstürzen, hüllen wir uns in die Rüstung unsrer bisher erober-
ten Erkenntnisse“ (103, 16 f.). Er erinnert an den „Bildungskampf Goethe’s,
Schiller’s und Winckelmann’s“ (129, 14 f.) und spricht sogar von „den verschie-
densten Feldlagern des Geistes“ (129, 32). In einem ganzen Abschnitt der
Schrift Richard Wagner in Bayreuth gestaltet er die Vorstellung eines Kampfes
zugunsten „jenes tragischen Kunstwerkes von Bayreuth“ geradezu zu einem
Kriegsszenario aus (KSA 1, 451). Auch durch zahlreiche Briefe zieht sich in
auffallender Weise diese Kampf-Obsession im Dienste einer auf Wagner bezo-
genen „Cultur“. Allerdings reflektierte N. auch den pathologischen Zug seiner
kriegerischen Wünsche, von denen nach der Tragödienschrift auch seine als
Streitschriften gegen die eigene Zeit konzipierten Unzeitgemäßen Betrachtun-
gen erfüllt sind, allen voran schon die gezielt auf Skandal hin kalkulierte und
keineswegs im Ton einer „Betrachtung“ gehaltene Aggression gegen David
Friedrich Strauß. „In der That“, schreibt N. am 18. September 1873 an Richard
Wagner, „meine erträglichsten Empfindungen sind jetzt militärische Empfin-
dungen; und wenn ich schon zumeist von Schlachten und belagerten Städten
träume, so geht mein waches Denken erst recht auf Angriff und Streit aus. Das
ist auch ein Mittel, zur Ruhe zu kommen, wenn der faule Frieden ringsum
einem nur Unruhe schafft“ (KSB 4, Nr. 313, S. 157). In Ecce homo (Warum ich
so weise bin, Kap. 7) heißt es: „Angreifen gehört zu meinen Instinkten“ (KSA 6,
274, 3).
 
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