Stellenkommentar GT Vorwort, KSA 1, S. 23 85
bewußt zum emphatischen Exordium stilisierte Eröffnung. Zum Ausdruck
kommt auch schon die - von Wagner geteilte - Ästhetik des Erhabenen (vgl.
den Überblickskommentar S. 60-62), die zum Pathos gehört: N. spricht hier
von „erhebenden“ Stunden (23, 8) und nennt im letzten Satz des Vorworts
Wagner seinen „erhabenen“ Vorkämpfer (24, 17); sogar von den „Erhabenhei-
ten des eben ausgebrochnen Krieges“ ist die Rede (23, 20 f.). Wie sehr N. Wag-
ner mit der Vorstellung des Erhabenen verbindet, zeigt noch die vierte der
Unzeitgemäßen Betrachtungen: Richard Wagner in Bayreuth. Er sei ein Künstler,
heißt es darin, „der mehr als irgend ein anderer im Erhabenen und im Ueber-
Erhabenen allein frei athmen kann“ (KSA 1, 441, 28 f.).
23, 12 den entfesselten Prometheus auf dem Titelblatte] Schon diese Titel-
Vignette war eine Huldigung an Wagner. Dieser spielte in seiner Schrift Das
Kunstwerk der Zukunft (1849), in der er Beethovens 7. Symphonie als „Apotheose
des Tanzes“ und als Manifestation „bacchantischer Allmacht“ versteht (GSD III,
94), mehrmals auf Prometheus an. Dabei machte Wagner ein Wortspiel: Der
Prometheus des griechischen Mythos schuf die Menschen aus „Thon“ (Lehm),
Beethoven habe sie aus „Ton“ (Tönen) geschaffen - der mythische Heros nur
als Bild für das Auge, Beethoven nur für das Ohr. „Wie ein zweiter Prometheus,
der aus Thon Menschen bildete, hatte Beethoven aus Ton sie zu bilden
gesucht“. Wagner fährt mit Sätzen fort, in denen er selbst als Schöpfer des
,Gesamtkunstwerks4, der Bild und Ton zu vereinen weiß, der nun erst vollen-
dete prometheische Schöpfer zu sein beansprucht: „Waren des [griechischen]
Prometheus Bildungen nur dem Auge dargestellt, so waren die Beethoven’s
es nur dem Ohre. Nur, wo Auge und Ohr sich gegenseitig seiner
Erscheinung versichern, ist aber der ganze künstlerische
Mensch vorhanden“ (GSD III, 95). Die Vorstellung von einem entfesselten
Prometheus geht auf Aischylos zurück, von dessen Prometheus-Trilogie nur
das Drama Der gefesselte Prometheus erhalten ist. Doch läßt sich die verlorene
Fortsetzung Die Befreiung des Prometheus (d. h. der von seinen Fesseln befreite
Prometheus, Prometheus lyömenos], rekonstruieren: Den an einen Felsen
geschmiedeten Prometheus erlöst Herakles von seinen Qualen, indem er mit
einem Bogenschuß den Adler erlegt, der dem Prometheus unaufhörlich die
Leber zerfleischte. Darauf spielt die von N. ausgesuchte Titelvignette an. Sie
zeigt den aus seinen Fesseln sich lösenden Prometheus, wie er einen Fuß auf
den toten Adler setzt, in dessen Hals noch der Pfeil des Herakles steckt.
In seiner Schrift Die Kunst und die Revolution (1849) pries Wagner „die
tiefsinnigste aller Tragödien, den Prometheus“ (GSD III, 11). Zu dieser Zeit war
Wagner noch stark vom Links-Hegelianismus und vom Anarcho-Sozialismus
beeinflusst. Der junge Marx hatte in seiner Doktorarbeit (1841) Prometheus als
den wichtigsten Heiligen und Märtyrer im Philosophenkalender bezeichnet.
bewußt zum emphatischen Exordium stilisierte Eröffnung. Zum Ausdruck
kommt auch schon die - von Wagner geteilte - Ästhetik des Erhabenen (vgl.
den Überblickskommentar S. 60-62), die zum Pathos gehört: N. spricht hier
von „erhebenden“ Stunden (23, 8) und nennt im letzten Satz des Vorworts
Wagner seinen „erhabenen“ Vorkämpfer (24, 17); sogar von den „Erhabenhei-
ten des eben ausgebrochnen Krieges“ ist die Rede (23, 20 f.). Wie sehr N. Wag-
ner mit der Vorstellung des Erhabenen verbindet, zeigt noch die vierte der
Unzeitgemäßen Betrachtungen: Richard Wagner in Bayreuth. Er sei ein Künstler,
heißt es darin, „der mehr als irgend ein anderer im Erhabenen und im Ueber-
Erhabenen allein frei athmen kann“ (KSA 1, 441, 28 f.).
23, 12 den entfesselten Prometheus auf dem Titelblatte] Schon diese Titel-
Vignette war eine Huldigung an Wagner. Dieser spielte in seiner Schrift Das
Kunstwerk der Zukunft (1849), in der er Beethovens 7. Symphonie als „Apotheose
des Tanzes“ und als Manifestation „bacchantischer Allmacht“ versteht (GSD III,
94), mehrmals auf Prometheus an. Dabei machte Wagner ein Wortspiel: Der
Prometheus des griechischen Mythos schuf die Menschen aus „Thon“ (Lehm),
Beethoven habe sie aus „Ton“ (Tönen) geschaffen - der mythische Heros nur
als Bild für das Auge, Beethoven nur für das Ohr. „Wie ein zweiter Prometheus,
der aus Thon Menschen bildete, hatte Beethoven aus Ton sie zu bilden
gesucht“. Wagner fährt mit Sätzen fort, in denen er selbst als Schöpfer des
,Gesamtkunstwerks4, der Bild und Ton zu vereinen weiß, der nun erst vollen-
dete prometheische Schöpfer zu sein beansprucht: „Waren des [griechischen]
Prometheus Bildungen nur dem Auge dargestellt, so waren die Beethoven’s
es nur dem Ohre. Nur, wo Auge und Ohr sich gegenseitig seiner
Erscheinung versichern, ist aber der ganze künstlerische
Mensch vorhanden“ (GSD III, 95). Die Vorstellung von einem entfesselten
Prometheus geht auf Aischylos zurück, von dessen Prometheus-Trilogie nur
das Drama Der gefesselte Prometheus erhalten ist. Doch läßt sich die verlorene
Fortsetzung Die Befreiung des Prometheus (d. h. der von seinen Fesseln befreite
Prometheus, Prometheus lyömenos], rekonstruieren: Den an einen Felsen
geschmiedeten Prometheus erlöst Herakles von seinen Qualen, indem er mit
einem Bogenschuß den Adler erlegt, der dem Prometheus unaufhörlich die
Leber zerfleischte. Darauf spielt die von N. ausgesuchte Titelvignette an. Sie
zeigt den aus seinen Fesseln sich lösenden Prometheus, wie er einen Fuß auf
den toten Adler setzt, in dessen Hals noch der Pfeil des Herakles steckt.
In seiner Schrift Die Kunst und die Revolution (1849) pries Wagner „die
tiefsinnigste aller Tragödien, den Prometheus“ (GSD III, 11). Zu dieser Zeit war
Wagner noch stark vom Links-Hegelianismus und vom Anarcho-Sozialismus
beeinflusst. Der junge Marx hatte in seiner Doktorarbeit (1841) Prometheus als
den wichtigsten Heiligen und Märtyrer im Philosophenkalender bezeichnet.