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182 Die Geburt der Tragödie

die Beschaffenheit der Welt und des Daseyns. Es ist der Widerstreit des Willens
mit sich selbst, welcher hier, auf der höchsten Stufe seiner Objektivität, am
vollständigsten entfaltet, furchtbar hervortritt“. „Die vollkommene Erkenntniß
des Wesens der Welt“ führe „die Resignation“ herbei, „das Aufgeben, nicht
bloß des Lebens, sondern des ganzen Willens zum Leben selbst“ (Die Welt als
Wille und Vorstellung I, 3. Buch, § 51, Frauenstädt, Bd. 2, S. 298 f.). N. benutzt
seine Deutung des Satyrchors als „Chor von Naturwesen, die gleichsam hinter
aller Civilisation unvertilgbar leben und trotz allem Wechsel der Generationen
und der Völkergeschichte ewig dieselben bleiben“ (56, 12-15), um die „ewig“
wirksamen Naturkräfte - die hier, ohne daß dies ausgesprochen wird, die an
den Satyrn verdeutlichten sexuellen Energien sind - gegen die Wahrnehmung
des „Vernichtungstreibens der sogenannten Weltgeschichte“ aufzurufen. Damit
rückt er von Schopenhauers resignativer Schlußfolgerung ab. Die „Natur“ als
das ewig Bleibende wendet er in der für ihn auch sonst charakteristischen
Weise gegen die „Geschichte“. Daß er aber sogar dem „Hellenen“ die „Gefahr“
zuschreibt, „sich nach einer buddhaistischen Verneinung des Willens zu seh-
nen“, geht auf die in GT 3 berichtete Geschichte vom Silen zurück, der ange-
sichts des Leidens in der Welt zu König Midas - in N.s Worten - sagte: „Das
Allerbeste ist [...] nicht geboren zu sein, nicht zu sein, nichts zu sein. Das
Zweitbeste aber ist für dich - bald zu sterben“ (35, 21-24; vgl. hierzu den Kom-
mentar).
56, 21 f. Ihn rettet die Kunst, und durch die Kunst rettet ihn sich - das Leben.]
Die Kunst als Rettung vor der Verneinung des Lebens erinnert zwar an Scho-
penhauers Konzeption einer vom unseligen „Willen“ wenigstens scheinhaft
erlösenden Sphäre der ästhetischen „Vorstellung“; N. überschreitet aber Scho-
penhauers radikal negative Wertung, indem er sich auf die „ewigen“ und
durchaus positiv gewerteten „Naturwesen“ des Satyrchors beruft. Er stellt ihn
als Repräsentanten eines „Lebens“ dar, das sich dionysisch-vital durchsetzt
und die „Kunst“ nur zu diesem Zweck benutzt.
56, 23-29 Die Verzückung des dionysischen Zustandes mit seiner Vernichtung
der gewöhnlichen Schranken und Grenzen des Daseins enthält nämlich während
seiner Dauer ein lethargisches Element, in das sich alles persönlich in der
Vergangenheit Erlebte eintaucht. So scheidet sich durch diese Kluft der Verges-
senheit die Welt der alltäglichen und der dionysischen Wirklichkeit von einander
ab.] Vor diesem Passus hieß es in der Vorstufe:
Suchen wir jetzt die Schillersche Behauptung, daß die griechische Tragödie nicht nur der
Zeitfolge nach, sondern auch poetisch und in ihrem eigensten Geiste sich aus dem Chor
losgewunden hat, mit den vorher dargestellten Kunstprincipien in Einklang zu bringen:
so müssen wir zunächst zwei Sätze hinstellen. Das Dramatische, insoweit es das Mimische
 
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