Stellenkommentar GT 12, KSA 1, S. 87 267
digung des Sokrates (22 b-c): „Ich erfuhr also auch von den Dichtern in kurzem
dieses, daß sie nicht durch Weisheit (oocpia) dichteten, was sie dichteten, son-
dern durch eine Naturgabe (cpvo£i tivQ und in der Begeisterung (£v0ovaiöt0v-
Tcq), eben wie die Wahrsager und Orakelsänger. Denn auch diese sagen viel
Schönes, wissen aber nichts von dem, was sie sagen“ (Übers. Schleiermacher).
Entschieden ironischer distanziert sich Platon vom prätendierten Wissen der
Dichter und ihrer Interpreten, sofern sie ein eigenständiges Wissen beanspru-
chen und entsprechend respektiert werden wollen, noch in seinem frühen Dia-
log Ion. Hier preist Sokrates zwar die göttliche Begeisterung der Dichter, aber
gerade daraus gehe hervor, daß die Dichter nicht aufgrund eines besonderen
Wissens, sondern (bloß) inspiriert sprechen: Wie die Orakelsänger sind sie
lediglich Medien, durch die der Gott selber zu den Menschen spricht (533e-
535a). Indem Platon somit Dichtung prinzipiell irrational definiert, reißt er eine
Kluft zwischen Dichtung und Philosophie („Wissen“) auf. Dieser Zwist zwi-
schen Dichtung und Philosophie kommt auch in der Politeia (10, 607) und
noch in den Nomoi (4, 719b ff.) zur Sprache.
Der Dialog Ion erhält eine besonders ironische Note zugunsten der Philoso-
phie und gegen die Dichtung dadurch, daß er den Dichter in die prinzipiell
gleiche unselbständige Rolle bringt wie den eitlen Rhapsoden Ion. Platon ver-
wendet dafür das Gleichnis vom Magneten: Die Muse gibt ihre Kraft an den
Dichter, dieser an den Rhapsoden und der Rhapsode an die Zuhörer weiter.
Sogar das Beiwort „göttlich“ („göttliche Begeisterung“) erhält hierbei eine iro-
nische Färbung. N. nimmt mit der Rede vom „göttlichen Plato“ einen seit der
Antike geläufigen Topos auf, den er auch bei Schopenhauer finden konnte. Die
Schlüsselstelle im Ion, auf die sich N. bezieht, lautet (534b-c): „Denn ein leich-
tes Ding ist der Dichter und beschwingt und heilig und nicht eher in der Lage
zu dichten, bevor er nicht von Gott erfüllt und von Sinnen ist und der Verstand
nicht mehr in ihm wohnt (npiv av £v0£Öq te ysvrfrai Kai SKcppcov Kai ö voüq
prp<£Ti ev avT(I) £vp). Solange er aber diesen Besitz noch festhält, kann kein
Mensch dichten und Orakel verkünden“.
Im Hinblick auf N.s Stellung zu Platon ist es aufschlußreich, daß er hier
Platon als einen „allermeist“ auf „Wissen“ festgelegten Philosophen dem abge-
lehnten, weil nach seiner Meinung rationalistischen Euripides an die Seite
stellt. In der Abhandlung Socrates und die Tragoedie, einer Vorstufe zu GT,
kommt N.s Kritik an Platon unter dem Gesichtspunkt des „Sokratismus“ direk-
ter zum Ausdruck: „Die sokratische Mißachtung des Instinktiven hat auch
noch ein zweites Genie, außer Euripides, zu einer Reform der Kunst veranlaßt
und zwar zu einer noch radikaleren. Auch der göttliche Plato ist in diesem
Punkte dem Sokratismus zum Opfer gefallen [...] Überhaupt gehören nach ihm
die Künstler zu den überflüssigen Erweiterungen des Staatswesens, zusammen
digung des Sokrates (22 b-c): „Ich erfuhr also auch von den Dichtern in kurzem
dieses, daß sie nicht durch Weisheit (oocpia) dichteten, was sie dichteten, son-
dern durch eine Naturgabe (cpvo£i tivQ und in der Begeisterung (£v0ovaiöt0v-
Tcq), eben wie die Wahrsager und Orakelsänger. Denn auch diese sagen viel
Schönes, wissen aber nichts von dem, was sie sagen“ (Übers. Schleiermacher).
Entschieden ironischer distanziert sich Platon vom prätendierten Wissen der
Dichter und ihrer Interpreten, sofern sie ein eigenständiges Wissen beanspru-
chen und entsprechend respektiert werden wollen, noch in seinem frühen Dia-
log Ion. Hier preist Sokrates zwar die göttliche Begeisterung der Dichter, aber
gerade daraus gehe hervor, daß die Dichter nicht aufgrund eines besonderen
Wissens, sondern (bloß) inspiriert sprechen: Wie die Orakelsänger sind sie
lediglich Medien, durch die der Gott selber zu den Menschen spricht (533e-
535a). Indem Platon somit Dichtung prinzipiell irrational definiert, reißt er eine
Kluft zwischen Dichtung und Philosophie („Wissen“) auf. Dieser Zwist zwi-
schen Dichtung und Philosophie kommt auch in der Politeia (10, 607) und
noch in den Nomoi (4, 719b ff.) zur Sprache.
Der Dialog Ion erhält eine besonders ironische Note zugunsten der Philoso-
phie und gegen die Dichtung dadurch, daß er den Dichter in die prinzipiell
gleiche unselbständige Rolle bringt wie den eitlen Rhapsoden Ion. Platon ver-
wendet dafür das Gleichnis vom Magneten: Die Muse gibt ihre Kraft an den
Dichter, dieser an den Rhapsoden und der Rhapsode an die Zuhörer weiter.
Sogar das Beiwort „göttlich“ („göttliche Begeisterung“) erhält hierbei eine iro-
nische Färbung. N. nimmt mit der Rede vom „göttlichen Plato“ einen seit der
Antike geläufigen Topos auf, den er auch bei Schopenhauer finden konnte. Die
Schlüsselstelle im Ion, auf die sich N. bezieht, lautet (534b-c): „Denn ein leich-
tes Ding ist der Dichter und beschwingt und heilig und nicht eher in der Lage
zu dichten, bevor er nicht von Gott erfüllt und von Sinnen ist und der Verstand
nicht mehr in ihm wohnt (npiv av £v0£Öq te ysvrfrai Kai SKcppcov Kai ö voüq
prp<£Ti ev avT(I) £vp). Solange er aber diesen Besitz noch festhält, kann kein
Mensch dichten und Orakel verkünden“.
Im Hinblick auf N.s Stellung zu Platon ist es aufschlußreich, daß er hier
Platon als einen „allermeist“ auf „Wissen“ festgelegten Philosophen dem abge-
lehnten, weil nach seiner Meinung rationalistischen Euripides an die Seite
stellt. In der Abhandlung Socrates und die Tragoedie, einer Vorstufe zu GT,
kommt N.s Kritik an Platon unter dem Gesichtspunkt des „Sokratismus“ direk-
ter zum Ausdruck: „Die sokratische Mißachtung des Instinktiven hat auch
noch ein zweites Genie, außer Euripides, zu einer Reform der Kunst veranlaßt
und zwar zu einer noch radikaleren. Auch der göttliche Plato ist in diesem
Punkte dem Sokratismus zum Opfer gefallen [...] Überhaupt gehören nach ihm
die Künstler zu den überflüssigen Erweiterungen des Staatswesens, zusammen