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330 Die Geburt der Tragödie

bringen. Dieses ungeheure Vermögen der Musik sehen wir zweimal bisher in
der Weltgeschichte zur Mythenschöpfung kommen: und das eine Mal sind
wir beglückt genug, diesen erstaunlichen Prozeß selbst zu erleben, um von
hier aus auch jenes erste Mal uns analogisch zu verdeutlichen. Wer wird, falls
er nur einmal etwas von dieser wahrhaft religiösen Wirkung der mythenschaf-
fenden Musik erfahren hat,-“. Vgl. auch das ausführliche Schopenhauer-
Zitat in GT 16 (105, 4-107, 16), sowie das Schopenhauer-Zitat in einer nachge-
lassenen Notiz (NL 1871, KSA 7, 12[1], 359, 9-360, 12).
113, 9-14 Euripides, der in einem hohem Sinne eine durchaus unmusikalische
Natur genannt werden muss, ist aus eben diesem Grunde leidenschaftlicher
Anhänger der neueren dithyrambischen Musik und verwendet mit der Freigebig-
keit eines Räubers alle ihre Effectstücke und Manieren.] N. gibt hier ein Echo
auf Wagners Kritik an Meyerbeers Opern (GSD III, 301): „Das Geheimniß der
Meyerbeer’sehen Opernmusik ist - der Effekt [...] wollen wir [...] genauer
Das bezeichnen, was wir unter diesem Worte verstehen, so dürfen wir ,Effekt4
übersetzen durch ,Wirkung ohne Ursache4.44 Das Wort „Manieren“ ver-
wendet N. im Sinne des „Manieristischen“. Die negativen Kategorien dieser
Charakterisierung überträgt er hier auf Euripides und in seinen späten Anti-
Wagner-Schriften auf Wagner selbst. Bei Euripides treffen sie höchstens auf
manche Monodien (,Arien4) zu, nicht jedoch auf die Chorlieder, die schon zu
seiner Zeit wegen ihrer Melodien berühmt waren. Die nach der gescheiterten
Sizilischen Expedition des Alkibiades in den Steinbrüchen von Syrakus kriegs-
gefangenen und versklavten Athener sangen dort die Lieder des Euripides.
113, 17-33 das Ueberhandnehmen der Charakter dar Stellung und des
psychologischen Raffinements in der Tragödie von Sophokles ab [...] Die Bewe-
gung auf der Linie des Charakteristischen geht schnell weiter: während noch
Sophokles ganze Charaktere malt [...] malt Euripides bereits nur noch grosse
einzelne Charakterzüge] Daß das Interesse für Charaktere und für das „Charak-
teristische“ zunimmt, ist eine zu N.s Zeit in der Altertumswissenschaft längst
etablierte Erkenntnis, neu ist aber der Versuch, auch daraus einen Niedergang
abzulesen. Ihren Höhepunkt erreichte die Vorliebe für (typische) Charaktere
und das Charakteristische im 4. Jahrhundert v. Chr. in den Ethiken des Aristote-
les und bei dem Aristoteles-Schüler Theophrast (etwa 369-288 v. Chr.), von
dem Diogenes Laertius berichtet (5, 36), er sei Lehrer des Komödiendichters
Menander gewesen. Seine wirkungsreichste Schrift trug den bezeichnenden
Titel Charaktere (XapaKTppEq). Sie bot eine Sammlung von dreißig Kurzgemäl-
den typischer, meist negativer Charaktere mit präzisen, z.T. karikaturistisch
ausgeprägten Einzelzügen. Solche Charaktertypen sind: der Schmeichler, der
Schwätzer, der Bäurische, der Gefallsüchtige, der Gerüchtemacher, der Unver-
 
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