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332 Die Geburt der Tragödie

und Schmelztiegel, d. h. die im Dienste des höheren Egoismus erkannten und
verwendeten Kräfte der Naturgeister, dass sie an eine Correctur der Welt durch
das Wissen, an ein durch die Wissenschaft geleitetes Leben glaubt] N. nimmt
noch einmal das Leitmotiv des „metaphysischen Trostes“ (114, 13; 114, 19; 114,
26) auf, das den ganzen Schluss-Abschnitt durchzieht und auch am Beginn des
18. Kapitels (115, 29-34) thematisiert wird. Den „deus ex machina“ deutet er in
der hier zu erörternden Stelle modern um, nämlich als Gott des im 19. Jahrhun-
dert beginnenden Zeitalters der „Maschinen“ und der „Schmelztiegel“, d. h.
der industriellen Eisen- und Stahlgießereien (Krupp hatte bereits das größte
Gußstahlwerk der Welt geschaffen). Zusammen mit dem Kohle-Bergbau und
dem für solche Massengüter geeigneten Transportmittel, der Eisenbahn, bilde-
ten sie das Fundament der industriellen Revolution; in noch halb mythologisie-
render romantischer Sprache redet N. von den „Kräften der Naturgeister“, die
im Dienste des höheren Egoismus verwendet werden - eine Kritik an der vom
„Wissen“ und der „Wissenschaft“ geleiteten instrumentellen Vernunft. An kei-
ner Stelle sonst wird so deutlich, daß sich N.s Antimodernismus nicht bloß
auf den gesellschaftlichen und kulturellen Bereich erstreckt, sondern auch auf
die technische und industrielle Zivilisation, die auf „Wissen“ beruht und einen
problematischen Fortschritts-Optimismus samt der dazugehörigen „Heiterkeit“
erzeugt.
18. Kapitel
Schon in den früheren Kapiteln tritt die kulturkritische Tendenz hervor; von
diesem Kapitel an wird sie bis zum Ende der Schrift dominant. Die Kritik an
der bestehenden „Kultur“, die N.s Diagnose zufolge eine Oberflächenzivilisa-
tion ist, verbindet sich mit der Hoffnung auf eine wieder authentische Zukunft.
Für sie soll die schon im 16. Kapitel beschworene „Wiedergeburt der Tragödie“
das Zeichen sein. N. beruft sich auf eine naturhaft-existentielle und deshalb
ganzheitliche „Weisheit“, die im Gegensatz zur einseitig-rationalen „Wissen-
schaft“ (118, 29) steht. Das Kapitel läßt erkennen, wie sehr sich N. an der seit
der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts von Rousseau ausgehenden Kulturkri-
tik orientiert. Nachdem er schon bisher das „Wissen“ und die „Wissenschaft“
mit antiaufklärerischer Tendenz als fragwürdig dargestellt hat, wählt er jetzt
den „modernen Culturmenschen Faust“ (116, 25f.) als Paradigma der Wissen-
schafts- und Kulturkritik. Denn der auf dem Höhepunkt der Sturm und Drang-
Epoche konzipierte Anfangsteil des Faust I, die sogenannte Gelehrten-Tragödie,
steht (schon in den Anfangsversen) unter dem Eindruck der von Rousseau
initiierten Zivilisations- und Wissenschaftskritik.
 
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