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Stellenkommentar GT 20, KSA 1, S. 129 361

Abseits geraten könnte, auch die Gefahr, die von der Altertumswissenschaft
selbst ausging: daß es ihr in philologischer Selbstgenügsamkeit an „allen
künstlerischen Fähigkeiten und Empfindungen fehle“ und sie deshalb auch
jeden Bildungsanspruch und jedes lebendige Interesse verfehle, wie es noch zu
Goethes Zeit wirksam war. N. selbst hatte diesen Zustand der zeitgenössischen
Philologie, die Beschränkung auf textkritische, quellenkritische und überliefe-
rungskritische Untersuchungen in seinen eigenen philologischen Arbeiten als
ein Verkümmerungsstadium erfahren. Zwischen 1867 und 1873 verfaßte er
Arbeiten Zur Geschichte der Theognideischen Spruchsammlung, Beiträge zur Kri-
tik der griechischen Lyriker, De Laertii Diogenis fontibus, Analecta Laertiana,
Beiträge zur Quellenkunde und Kritik des Laertius Diogenes, Der Florentinische
Tractat über Homer und Hesiod, ihr Geschlecht und ihren Wettkampf; hinzu-
kommt seine Edition des Certamen quod dicitur Homeri et Hesiodi. Auch seine
Basler Vorlesungsaufzeichnungen lassen noch weitgehend einen eng philologi-
schen Zuschnitt erkennen. Doch schon in einem Brief vom 10. April 1871 an
Erwin Rohde schreibt er: „Bei mir herrscht der philologische Ekel!“ (KSB 3,
Nr. 132, S. 193, Z. 26). Umso mehr drängte sich ihm die Frage nach einem
lebendigen Erfahrungs- und Bildungswert der Antike für die Gegenwart auf. Er
suchte ihn vor allem in ihrem Kunstwert, in ihrer ästhetischen Qualität.
Von diesem Anliegen ist die Anfangspartie des 20. Kapitels getragen.
Zunächst (129, 10-19) konstatiert N. das Ringen um den Bildungswert der
Antike seit Winckelmann und Goethe, nach der Goethezeit aber einen zuneh-
menden Zweifel am Sinn der Beschäftigung mit der Antike: „Deshalb sehen
wir seit jener Zeit das Urtheil über den Werth der Griechen für die Bildung in
der bedenklichsten Weise entarten“ (129, 29-31). Diese Entartung diagnostiziert
er zuerst an einem oberflächlich harmoniesüchtigen und schönrednerischen
Klassizismus (130, 1-3), zweitens in einer positivistischen Kleinkrämerei (130,
12 f.), drittens in einem durch die zeitgenössische „gebildete Geschichtsschrei-
bung“ (130, 17) verursachten Herabsinken zu den bloßen „Alterthümern“, das
für die Archäologisierung der Antike im 19. Jahrhundert charakteristisch ist.
Diesen Degenerationsformen einer nur noch „sogenannten Bildung“ (130, 31)
will N. einen neuen lebendigen Anspruch durch „das Wiedererwachen des dio-
nysischen Geistes“ entgegensetzen, das sich in der „Wiedergeburt der Tragö-
die“ (130, 29 f.) als lebendige „Kunst“ (130, 32-34) manifestieren soll.
Sodann deutet N. an, daß er damit den Weg des Klassizismus verläßt,
der seines Erachtens zu den genannten Degenerationsformen führen mußte.
Obwohl er Schiller und Goethe seine Reverenz erweist, stellt er fest, daß es
ihnen „nicht gelingen durfte, jene verzauberte Pforte zu erbrechen, die in den
hellenischen Zauberberg führt“ (131, 5-7), und daß es erst recht nicht ihren
„Epigonen“ (131, 10) gelingen konnte. So wie er schon früher in GT ein völlig
 
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