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Stellenkommentar GT 21-22, KSA 1, S. 138-141 381

das Gewebe am Webstuhl im Auf- und Niederzucken entstehen sehen] Zu der
Vorstellung von einer inneren Erleuchtung der dramatisch-szenischen Gestalt
durch die Musik und zu ihrer Herkunft von Richard Wagner vgl. NK 138, 5-13.
Mit dem Bild „Gewebe am Webstuhl“ spielt N. auf den ursprünglichen Sinn
des Wortes „Text“ an, das wie unsere ,Textilie4 von lat. textus, „Gewebe“
stammt und bereits in der Antike auch die übertragene Bedeutung erhielt.
139, 27-33 Und damit erweist sich die apollinische Täuschung als das, was
sie ist, als die während der Dauer der Tragödie anhaltende Umschleierung der
eigentlichen dionysischen Wirkung: die doch so mächtig ist, am Schluss das apol-
linische Drama selbst in eine Sphäre zu drängen, wo es mit dionysischer Weisheit
zu reden beginnt und wo es sich selbst und seine apollinische Sichtbarkeit ver-
neint.] Die „Umschleierung“ deutet zurück auf 28, 10 f., wo „von dem im
Schleier der Maja befangenen Menschen“ die Rede ist, in engem Anschluss an
Schopenhauer und an die von diesem aufgenommene buddhistische Lehre, die
Wagner vor allem in Tristan und Isolde romantisch aktualisierte (hierzu NK 28,
10 f.). N. überträgt in diesem Satz die buddhistische (und von Schopenhauer
adaptierte) Interpretation der Welt, derzufolge sie ein bloß wesenloser Schein
ist, ein Schleier, der das menschliche Bewußtsein täuschend umfängt, aber
schließlich zerrissen werden kann, auf die Tragödie und deren prozessuales
Geschehen: Während der „Dauer der Tragödie“ herrscht im gesprochenen
Wort, in den individuellen Gestalten der Akteure und im konkret sichtbaren
Geschehen (Schopenhauers „Vorstellung“) die „apollinische Täuschung“;
indem dies alles dann aber am Ende durch die tragische Katastrophe dem
entindividualisierenden Untergang verfällt, geht es in das Dionysische über,
das N. mit Schopenhauers „Willen“ assoziiert, indem er es als den „eigentli-
chen“ Weltgrund auffaßt.
141,17-24 In des Wonnemeeres [...] höchste Lust!] Isoldes Worte am Ende der
Oper, als sie sich über Tristans Leichnam beugt.
141, 25-29 So vergegenwärtigen wir uns, an den Erfahrungen des wahrhaft
aesthetischen Zuhörers, den tragischen Künstler selbst, wie er, gleich einer üppi-
gen Gottheit der individuatio, seine Gestalten schafft, in welchem Sinne sein Werk
kaum als „Nachahmung der Natur“ zu begreifen wäre] Den „aesthetischen
Zuhörer“ beschwört N. leitmotivisch bis zum Ende von GT 22. Er meint wie
Wagner den sich bis zu vollständiger Empathie mit dem „tragischen Künstler“
identifizierenden Zuhörer. Aus seinen „Erfahrungen“ soll es möglich sein, „den
tragischen Künstler selbst“ zu verstehen. Diese „Erfahrungen“ und dieses als
sympathisierende Vergegenwärtigung definierte Verstehen verbindet N. mit sei-
ner Konzeption einer schöpferischen Tätigkeit, die auf das Apollinische-
Gestalthafte ausgerichtet ist und zur „individuatio“ führt. Die Wendung „gleich
 
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