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392 Die Geburt der Tragödie

sie trage lediglich zur Erregung von Gefallen bei (tcüv öe Aomcüv 17 psAonoiia
psyidTOV tcüv pövopäTCüv, 1450 b 15-16). Terminologisch aufschlußreich wertet
Aristoteles die Musik als etwas für die Tragödie ,Gemachtes4, d. h. als sekun-
däre Zutat, während N. sie als konstitutiv darstellt und ihr im Anschluß an
Schopenhauer metaphysische Absolutheit zuspricht.
In einer lockeren Reihung von Nachlass-Notaten des Jahres 1871 versucht
N. den Stellenwert von Musik und Mythos anti-aristotelisch umzudefinieren.
Er setzt die Musik an die erste Stelle und macht sie wie in 107, 30-32 zum
Ursprung (er spricht in der Wagnerschen Metaphorik vom „Gebären“) des
„Mythus“ und aller anderen in der Tragödien-Definition des Aristoteles wesent-
lichen Elemente der Tragödie. N. geht in seiner systematisierenden Konstruk-
tion noch weiter, indem er auch diese anderen Elemente der Tragödie - nicht
nur den „Mythus“, sondern auch die Charaktere und Gedanken - in eine gene-
tisch abgestufte Reihenfolge bringt. Er fragt, „ob Musik Gedanken erzeu-
gen kann?“ und antwortet: „Zunächst Bilder, Charaktere, dann Gedanken“.
Obwohl er zunächst „Die Geburt des Gedankens aus Musik“ feststellen
will, legt er dann doch das Hauptgewicht auf den „Mythus“. „Der antike
Mythus ist meist aus Musik geboren. Eine Bilderreihe. Es sind die tragi-
schen Mythen“. Schließlich sieht er in den Mythen Interpretationen der
Musik: „Was ist hier der Mythus? Eine Geschichte, eine Kette von Ereignissen
ohne ,fabula docet4, aber als Ganzes Interpretation der Musik“. „Der tragische
Mythus Darstellung eines Leidens als Interpretation der Musik“ (NL 1871,
KSA 7, 9[125], 320, 6-31). Ein anderes Nachlass-Notat aus dem Jahr 1871 analogi-
siert mit der behaupteten Genese der Wagnerschen Mythen aus der Musik die-
jenige der antiken Mythen: „Dieses ungeheure Vermögen der Musik sehen wir
zweimal bisher in der Weltgeschichte zur Mythenschöpfung kommen: und
das eine Mal sind wir beglückt genug, diesen erstaunlichen Prozeß selbst zu
erleben, um von hier aus [!] auch jenes erste Mal uns analogisch zu verdeutli-
chen“ (NL 1871/1872, KSA 7, 14[3], 376, 13-17).
N. wiederholt und versammelt in diesen letzten drei Kapiteln nahezu alle
schon dargestellten Thesen und Vorstellungen, um ein grandioses Finale zu
intonieren. Zugleich aber verschieben sich die Akzente. Zwar schreibt er in GT
24, 152, 17-20: „Hier nun wird es nöthig, uns mit einem kühnen Anlauf in
eine Metaphysik der Kunst hinein zu schwingen, indem ich den früheren Satz
wiederhole, dass nur als aesthetisches Phänomen das Dasein und die Welt
gerechtfertigt erscheint“; aber zugleich wendet er nun diese These mit deutli-
chen Wagner-Reflexen (vgl. NK 151, 2-6) auf den Bereich subjektiver Wahrneh-
mung und sympathisierender Teilnahme an, indem er den „aesthetischen
Zuhörer“ oder „Zuschauer“ imaginiert: zuerst schon in GT 22, 143, 9 f.: „So ist
mit der Wiedergeburt der Tragödie auch der aesthetische Zuhörer wieder
 
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