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Sommer, Andreas Urs; Nietzsche, Friedrich; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Mitarb.]
Historischer und kritischer Kommentar zu Friedrich Nietzsches Werken (Band 6,1): Kommentar zu Nietzsches "Der Fall Wagner", "Götzen-Dämmerung" — Berlin, Boston: De Gruyter, 2012

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https://doi.org/10.11588/diglit.70913#0008
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Vorwort zu NK 6/1 und 6/2

Die Schriften aus Nietzsches letzter Schaffensphase, die das Jahr 1888 und die
ersten Tage des Jahres 1889 umfasst, lassen weit hinter sich, was man als
moralisch-weltanschaulichen Konsens des christlichen Abendlandes bezeich-
nen könnte. Der denkerische Extremismus in diesen Schriften fasziniert und
schockiert bis heute die Leser gleichermaßen. Nietzsches anhaltende Populari-
tät, die ihn so sehr von anderen Denkern aus der zweiten Hälfte des 19. Jahr-
hunderts unterscheidet, resultiert daraus, dass er aussprach, was niemand
sonst zu sagen oder zu schreiben sich traute - z. B. über die Moral, über die
Notwendigkeit von sozialer Selektion und von starken, sich anderer nur als
Mittel bedienender Individuen, über die Verderblichkeit von Christentum und
Demokratie. Über alle politischen und historischen Brüche hinweg kann man
sich unter dem Schutz einer einhundertjährigen, affirmativen Rezeption auf
Nietzsche beziehen, ohne sich zu seinen extremsten Äußerungen bekennen zu
müssen. Man kann Nietzsche als Vorwand, als Maske benutzen, ohne seine
eigenen Überzeugungen offenzulegen. Zwar will gegenwärtig niemand lauthals
Positionen vertreten, wie Nietzsche sie 1888/89 zumindest experimentell arti-
kulierte, aber ihr Reiz und ihre Versuchungskraft bleiben - gerade auch gegen
den herrschenden moralisch-weltanschaulichen Konsens, der beispielsweise
die Gleichheit und Würde aller Menschen gegen jegliche Kritik immunisieren
soll. Nietzsche hilft also da, wo man selbst nicht weiterzudenken wagt. Nietz-
sche dient als Mut-Ersatz.
Bei näherem Hinsehen besteht freilich Nietzsches Originalität häufig weni-
ger in seinen Ideen als solchen, sondern in deren Zuspitzung. Nietzsche hat in
der intellektuellen Entwicklung des 19. Jahrhunderts eine katalytische Funk-
tion: Er radikalisiert das Denken, aber auch die Sehnsüchte und Widersprüche
einer ganzen Epoche. Das macht ihn für heutige Leser, die partiell noch an
dieser Epoche, an ihren Sehnsüchten und Widersprüchen teilhaben, sowohl
anziehend als auch abstoßend: Sie fühlen sich von Nietzsche befremdet und
zugleich mit ihm vertraut.
Nietzsches letzte Werke zeigen, dass er danach strebte, die Deutungshoheit
über sein eigenes Denken zu behalten. In Ecce homo versuchte er mit der
Retraktation seiner eigenen Schriften eine autoritative Interpretation vorzuge-
ben. Auch aus früheren Äußerungen geht hervor, dass Nietzsche noch postum
kontrollieren zu können hoffte, wie man über ihn zu denken und was man
über ihn zu wissen habe. Josef Paneth berichtete seiner Braut Sofie Schwab
am 15. Februar 1884 von einem am selben Tag mit Nietzsche geführten
Gespräch: „Dann sprachen wir vom Briefstil und wie man Briefe nicht heraus-
geben sollte, er würde alle seine Freunde verpflichten, nichts von ihm nach
 
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