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Sommer, Andreas Urs; Nietzsche, Friedrich; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Mitarb.]
Historischer und kritischer Kommentar zu Friedrich Nietzsches Werken (Band 6,1): Kommentar zu Nietzsches "Der Fall Wagner", "Götzen-Dämmerung" — Berlin, Boston: De Gruyter, 2012

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https://doi.org/10.11588/diglit.70913#0022
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I Überblickskommentar
1 Entstehungsgeschichte und Textgeschichte
Am 20. 08. 1882 teilte N. seinem Anhänger und Zuarbeiter Heinrich Köselitz im
Blick auf Arthur Schopenhauer, den er in der Fröhlichen Wissenschaft
behandle, mit: „auf ihn und auf Wagner werde ich vielleicht nie wieder
zurückkommen, ich mußte jetzt mein Verhältniß feststellen, in Bezug auf
meine früheren Meinungen" (KSB 6, Nr. 282, S. 238, Z. 8-11). Noch vor
Richard Wagners Tod am 13. 02. 1883 schien für N. die Auseinandersetzung mit
dem musikalisch-ideologischen Idol seiner frühen Schaffensjahre erledigt zu
sein. Seit dem Bruch der persönlichen Beziehungen in den späten 1870er Jah-
ren hatte sich N. tatsächlich kaum eine Gelegenheit entgehen lassen, über
Wagner philosophisch zu Gericht zu sitzen. Als ihm Rezensenten nach Erschei-
nen der Polemik Der Fall Wagner (WA) dann vorwarfen, seine Abkehr von Wag-
ner sei abrupt und unmotiviert erfolgt, stellte N. im Dezember 1888 noch einige
Textstücke aus seinen früheren Schriften zusammen und arrangierte sie zu
einem neuen Werk: Nietzsche contra Wagner, um zu belegen, dass er sich kei-
neswegs plötzlich und erst vor Kurzem von Wagner abgewandt habe (die Phase
seines unbedingten Wagnerianismus dauerte womöglich nur zwei Jahre, siehe
Prange 2011). Das Thema Wagner schien N., trotz der brieflichen Bemerkung
von 1882, auch in seinem letzten Schaffensjahr noch keineswegs abgetan.
Der Fall Wagner war seit den letzten beiden Unzeitgemässen Betrachtungen
über Arthur Schopenhauer (1874) und Richard Wagner (1876) das erste Werk
N.s, das eine historische Einzelperson zum Gegenstand einer eigenständigen
Schrift machte — diesmal jedoch unter umgekehrten Vorzeichen: Stellten sich
die beiden Unzeitgemässen Betrachtungen zumindest vordergründig noch
demütig in den Dienst der Kultur- und Denkheroen Schopenhauer und Wagner,
erscheint Wagner nun als das Gegenteil eines bewunderungswürdigen Exem-
pels für die Erneuerung der musikalisch-dramatischen Kultur, nämlich als
Symptom ihres äußersten Verfalls. N. hatte sich bereits in seinen frühen Schrif-
ten über die griechische Tragödie, die vorsokratische Philosophie, gegen
Sokrates und gegen David Friedrich Strauß einer Strategie der Personalisierung
von Problemen bedient: Allgemeine Epochenerscheinungen werden personifi-
ziert; die Person steht für das Ganze — sei es für die Lösung eines Problems
im Falle der Kulturkrise der Gegenwart (deren Lösung nach der Geburt der
Tragödie in Wagner inkarniert sein soll), sei es für das Problem selbst im Falle
der decadence, deren Leitsymptom in WA Wagner darstellt.
Die Entstehung von WA umspinnt eine Legende, die zugleich eine Erklä-
rung zu liefern scheint, weshalb N. trotz der Verlautbarung von 1882, er werde
 
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