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Sommer, Andreas Urs; Nietzsche, Friedrich; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Mitarb.]
Historischer und kritischer Kommentar zu Friedrich Nietzsches Werken (Band 6,1): Kommentar zu Nietzsches "Der Fall Wagner", "Götzen-Dämmerung" — Berlin, Boston: De Gruyter, 2012

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https://doi.org/10.11588/diglit.70913#0027
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8 Der Fall Wagner

Ereigniß aller Zeiten, mit dem die Geschichte der Menschheit in zwei Hälften
auseinander bricht..." (KSB 8, Nr. 1126, S. 447, Z. 6-20) Im Folgenden bat N.
Meysenbug, sich mit Gabriel Monod wegen einer möglichen Übersetzung von
WA zu beraten; das Werk passe überhaupt vorzüglich zum französischen
Geschmack. Der Brief an Meysenbug lässt nicht nur mit der frankophonen
Koketterie das Muster für N.s Deutung von WA erkennen. („Diese Schrift gegen
Wagner sollte man auch französisch lesen. Sie ist sogar leichter in's Franzö-
sische zu übersetzen als ins Deutsche." Ebd., Z. 21-23). Zunächst gibt auch hier
die bellizistische Metaphorik, die N.s Schriften 1888 beherrscht, den Grundton
vor. Darauf folgt die Charakterisierung als „Duell" (Z. 12), bei dem N. heiter
geblieben zu sein beansprucht. Besonders wichtig scheint es ihm gewesen zu
sein, das Werk als eine „Erholung" neben das Großprojekt der „Umwerthung
aller Werthe" zu stellen, das N. bald im Antichrist für vollständig realisiert
halten sollte. Die rhetorische Strategie besteht darin, zum einen die Bedeutung
von WA gegenüber dem Hauptwerk als Gelegenheitsschrift herunterzuspielen,
andererseits ihr dennoch für die Diagnose und Therapie der Gegenwart eine
entscheidende Rolle zuzuweisen. Diese Strategie unterstellt, dass selbst ein
kleines Werk N.s für die Menschheit ein großer Schritt sei.
Entsprechend empfindlich reagierte N., als ihm Malwida von Meysenbug
Mitte Oktober 1888 die erhoffte Zustimmung verweigerte und sich das Recht
herausnahm, „freimüthig Opposition" zu machen und N. zu „sagen wo ich
finde daß Sie Unrecht haben. Ich bin auch der Ansicht daß man eine alte
Liebe, selbst wenn sie erloschen ist, nicht so behandeln darf wie Sie W<agner>
behandeln; man beleidigt sich damit selbst, denn man hat doch einmal ganz
und voll geliebt und der Gegenstand dieser Liebe war doch kein Phantom,
sondern eine ganze volle Wirklichkeit." (KGB III 6, Nr. 591, S. 330, Z. 3-9) Weit
davon entfernt, die freundschaftliche Kritik zu akzeptieren, stilisierte N. in sei-
ner brüsken Replik am 18. 10. 1888 WA zum Schibboleth, wie man sich ihm
und seinem Denken insgesamt gegenüber verhalte: „das sind keine Dinge, wo-
rüber ich Widerspruch zulasse. Ich bin, in Fragen der decadence, die höchste
Instanz, die es auf Erden giebt: diese jetzigen Menschen, mit ihr<er> jammer-
vollen Instinkt-Entartung, sollten sich glücklich schätzen, Jemanden zu haben,
der ihnen in dunkleren Fällen reinen Wein einschenkt." (KSB 8, Nr. 1131,
S. 452, Z. 3-8) N.s grußloser Brief gipfelt in der Gegenüberstellung von Wagner
als einem „Genie[.] der Lüge" und sich selbst als „Genie der Wahrheit"
(ebd., Z. 12-14). Selbst der „Erholung" WA gegenüber darf sich der Leser —
mochte er auch zu den bisherigen Freunden gezählt haben — nach N. nicht
einfach indifferent oder gar ablehnend verhalten; das Urteil über WA wird zu
einer Bekenntnis- und Schicksalsfrage stilisiert. Daher beließ N. es nicht bei
seinem Brief vom 18. 10. 1888, sondern behelligte Meysenbug am 20. 10. 1888
 
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