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Sommer, Andreas Urs; Nietzsche, Friedrich; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Mitarb.]
Historischer und kritischer Kommentar zu Friedrich Nietzsches Werken (Band 6,1): Kommentar zu Nietzsches "Der Fall Wagner", "Götzen-Dämmerung" — Berlin, Boston: De Gruyter, 2012

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https://doi.org/10.11588/diglit.70913#0034
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Überblickskommentar 15

Form seiner Auseinandersetzung mit Wagner Gedanken machte. An sich ist
die Wahl der Briefgestalt für ein philosophisches oder literarisches Werk nichts
Ungewöhnliches; ,,[d]er Brief ist die ursprünglichste Form des literarischen
Verkehrs, insofern er die fesselloseste ist" (Overbeck 1879, 222), analysierte N.s
Freund Franz Overbeck in seinem Aufsatz Aus dem Briefwechsel des Augustin
mit Hieronymus (vgl. dazu N.s Postkarte an Overbeck, 11. 04. 1879, KSB 5,
Nr. 837, S. 405). Schon Platon, Epikur und Seneca nutzen den literarischen
Brief als philosophisches Medium. Bei N.s „Turiner Brief vom Mai 1888" ist
allerdings nicht nur bemerkenswert, dass sich N. sonst dieser Form, von seinen
eigentlichen, mitunter durchaus ja philosophischen Privatkorrespondenzen
abgesehen, kaum bediente, sondern auch, dass über den Adressaten, den man
für das Medium als konstitutiv ansehen könnte, gar nichts gesagt wird. Es
bleibt völlig offen, wer dieser Adressat ist: Eine ganz bestimmte Person? Die
Anhänger Wagners? Die decadents? Die Musiksachverständigen? Die Turiner?
Die Deutschen? Die Europäer der Zukunft? Gelegentlich werden die Adressaten
zwar direkt angesprochen — beispielsweise mit dem Einschub „werden Sie es
glauben?" (KSA 6, 13, 5) oder mit rhetorischen Aufforderungen: „Versuchen
Sie's doch!" (KSA 6, 29, 20). Gelegentlich — wie zu Beginn von WA 8 (KSA 6,
29, 17-27) — weiten sich diese Leser-Ansprachen zu eigentlichen Dialogen aus,
bei denen auch die Adressaten als Gegenredner eine Stimme zu bekommen
scheinen. Aber diese Adressaten bleiben doch sonderbar unbestimmt; weder
sind sie als Gegner noch als Anhänger Wagners, weder als decadents noch als
decadence-Überwinder greifbar; sie vertreten keine Positionen, an denen sich
der Briefschreiber abarbeiten könnte.
Bleiben die Adressaten des „Briefes" WA kaum fassbar, so sind zwei andere
Aspekte starke Indizien für die Briefform, nämlich die im Untertitel gemachten
Ort- und Zeitangaben (da N. sich im Mai 1888 in Turin aufhielt, wird „Turiner"
nicht wie „Römer" im Römerbrief des Paulus die Adressaten, sondern eben den
Abfassungsort bezeichnen). Philosophische Kunstbriefe pflegen solche Orts-
und Zeitangaben zu unterschlagen oder zu fingieren; bei WA entsprechen sie
grosso modo den historischen Tatsachen. Das erhöht den Anschein von
Authentizität: N. will als Experte für Wagner und decadence sprechen und tut
dies, indem er deutlich macht, von welchem Ort und zu welcher Zeit er spricht.
Dies könnte so verstanden werden, dass N. das in WA Gesagte als Momentauf-
nahme seiner Befindlichkeit zu einem bestimmten Zeitpunkt an einem
bestimmten Ort zu relativieren sucht — im August 1888 hätte es in Sils-Maria
darum schon wieder ganz anders stehen können. Jedoch scheint N. keine
Selbstrelativierung durch Kontextualisierung beabsichtigt zu haben; das in WA
Gesagte wird dekretiert und duldet keinen Widerspruch, so dass ein neuer
Kontext — statt Turin im Mai 1888 also beispielsweise Sils-Maria im August
 
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