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Sommer, Andreas Urs; Nietzsche, Friedrich; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Contr.]
Historischer und kritischer Kommentar zu Friedrich Nietzsches Werken (Band 6,1): Kommentar zu Nietzsches "Der Fall Wagner", "Götzen-Dämmerung" — Berlin, Boston: De Gruyter, 2012

DOI Page / Citation link: 
https://doi.org/10.11588/diglit.70913#0035
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16 Der Fall Wagner

1888 — am Gesagten nichts ändern würde. WA hat wie ein Brief des von N. so
verabscheuten Apostels Paulus den Charakter eines Sendschreibens, das von
einem bestimmten Ort und einer bestimmten Zeit aus das einzig Gültige zum
Thema verlautbaren will. Die Antwort eines ebenbürtigen Korrespondenzpart-
ners wird nicht erwartet.
Dennoch soll WA nicht einfach in trockenem Verkündigungstonfall N.s Ein-
sichten zu Wagner, zur Zeit und zur decadence deklamieren; das Werk ist sicht-
lich um eine sehr abwechslungsreiche literarische Gestaltung bemüht. Das
Oszillieren zwischen Ernst und Heiterkeit, das schon im Motto (KSA 6, 13, 3)
angekündigt wird, hält sich durch die einzelnen Abschnitte durch. Der alte rhe-
torisch-ästhetische Topos variatio delectat („Die Abwechslung erfreut" — Cicero:
De natura deorum I, 9, 22) wurde von N. aber keineswegs willkürlich angewandt.
Traut man seinen nachgelassenen Aufzeichnungen, so sind die zwölf
Abschnitte wie die Sätze eines musikalischen Werks durchkomponiert und zu-
einander ins Verhältnis gesetzt. In NL 1888, KSA 13, 16[74], 510 ist jedem einzel-
nen Abschnitt von WA nicht nur eine kurze inhaltliche Charakterisierung zuge-
ordnet, sondern auch eine Satz- oder Stimmungsbezeichnung wie in einer
spätromantischen Komposition:

X — schmerzhaft-nachdenklich
1. Bizet's Musik — der Philosoph
2. Süden, Heiterkeit, mau(rischer) Tanz Liehe
3. der „Erlöser" — Schop(enhauer)
4. der „Ring", Schopenhauer als Erlöser Wagners
5. der decadent — grimmig!
6. scherzhaft „Ahnen" „Umwerfen" „Erheben"
7. „Hysterismus" „Stil" die kleinen Kostbarkeiten
8. „niederwerfende Wirkung" „der Victor
Hugo der Sprache" „Talma"
„alla genovese"
9. „Handlung" „Edda" „ewiger Gehalt"
„Madame Bovary" „kein Kind"
10. „Litteratur" „Idee" „Hegel" „deutscher
Jüngling" — was wir vermissen?
11. lobend, stark, thatsächlich „der
Schauspieler"
12. drei Formeln

ironisch
fremd-interessant
ironisch
fremd-interessant
grimmig!
ironisch
fremd-interessant
lobend-rasch
ironisch
ironisch-fremd-interessant
stark-huldigend
grimmig

zu 10) Wagner ist dunkel, verwickelt, siebenhäutig
8 das bleibt ernst selbst bei Wagners „Contrapunkt"

„Grimmig", „ironisch" und „fremd-interessant" sind die vorherrschenden Stim-
mungscharakteristika, die N. hier von den einzelnen Abschnitten gibt; Wagners
Massenerfolg lässt sich mit diesem Raster ebenso ins Visier nehmen wie der
 
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