Metadaten

Sommer, Andreas Urs; Nietzsche, Friedrich; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Contr.]
Historischer und kritischer Kommentar zu Friedrich Nietzsches Werken (Band 6,1): Kommentar zu Nietzsches "Der Fall Wagner", "Götzen-Dämmerung" — Berlin, Boston: De Gruyter, 2012

DOI Page / Citation link: 
https://doi.org/10.11588/diglit.70913#0037
License: In Copyright

DWork-Logo
Overview
Facsimile
0.5
1 cm
facsimile
Scroll
OCR fulltext
18 Der Fall Wagner

und damit in eine herausgehobene Position gerückt (EH WA 1-4, KSA 6, 357-
364). Damit erhält das Werk eine Prominenz, die N. aus seinem eigenen Leiden
heraus begründet: „Woran ich leide, wenn ich am Schicksal der Musik leide?
Daran, dass die Musik um ihren weltverklärenden, jasagenden Charakter
gebracht worden ist" (EH WA 1, KSA 6, 357, 5-8). Dennoch spricht N. in seiner
Retraktation von WA weder zur Hauptsache über diese Schrift, noch gibt
er eine Erläuterung seiner Wagner-Kritik. Vielmehr verbreitet er sich da-
rüber, welche Abscheulichkeiten sich die Deutschen in der Geschichte der
europäischen Kultur hätten zuschulden kommen lassen.
Dieses Vorbeireden an Wagner und an WA scheint anzuzeigen, dass es in
WA nur vordergründig um eine persönliche Abrechnung geht, in Wahrheit aber
um das Fallbeispiel einer sich vollziehenden Umwertung, für die Wagner und
die Musik nur den äußeren Anlass abgeben. In der Sache sind die in WA prä-
sentierten Argumente gegen Wagner durchaus aus früheren Schriften N.s
bekannt, aber erst in der polemischen Verschärfung von WA erscheinen sie als
Elemente einer allgemeinen Strategie, der Gegenwart eine neue Werteorientie-
rung, nämlich die antidekadente Bejahung des Lebens zu verordnen.
WA hätte dann zum einen seine Bedeutung als Anwendungsfall des Kon-
zepts einer „Umwerthung aller Werthe". Zum anderen besteht eine zentrale
Intention von WA (und später auch NW) darin, jede Verwechslung, nämlich
die Verwechslung von N. mit Wagner und dessen Kulturerneuerungsideen aus-
zuschließen. Die Angst vor dem Verwechselt-Werden ist ein besonderes Kenn-
zeichen der Schriften von 1888 (vgl. z. B. EH Vorwort 1, KSA 6, 257, 16-18). Nur
eine rabiate Abschottungsrhetorik scheint N. da helfen zu können. N. ist es mit
WA zweifellos gelungen, aus dem Schatten Wagners zu treten. Die unmittelbare
und intensive Rezeption von WA machen die Schrift zu einer wichtigen Weg-
marke in N.s Wirkungsgeschichte.

6 Zur Wirkungsgeschichte
N.s überaus scharfe Wagner-Pathologisierung klingt gerade da, wo sie die
Melodie zurückfordert und eine heitere, unkomplexe, untheatralische Musik
propagiert, so, als ob es eine Authentizität der Kunst, eine Reinheit der In-
stinkte, eine organische Ganzheit gäbe, zu der es zurückzukehren gälte. Das
riecht nach reaktionärer Kulturkritik, die sich — durchaus im Gefolge von
WA — im 20. Jahrhundert großer Beliebtheit erfreuen sollte. Dennoch ist nicht
zu verkennen, dass N.s andere Werke aus seinem letzten Schaffensjahr — ins-
besondere Götzen-Dämmerung, Der Antichrist und Ecce homo — es nicht erlau-
ben, seine Kulturkritik derart einseitig als harmoniesüchtig zu lesen. WA hat
 
Annotationen
© Heidelberger Akademie der Wissenschaften