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Sommer, Andreas Urs; Nietzsche, Friedrich; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Contr.]
Historischer und kritischer Kommentar zu Friedrich Nietzsches Werken (Band 6,1): Kommentar zu Nietzsches "Der Fall Wagner", "Götzen-Dämmerung" — Berlin, Boston: De Gruyter, 2012

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https://doi.org/10.11588/diglit.70913#0042
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II Stellenl<ommentar

Der Titel
9, 1 Der Fall Wagner.] Der von N. gewählte Haupttitel seiner Streitschrift lässt
einen breiten Deutungsrahmen offen, da das Wort „Fall" ein großes Bedeu-
tungsspektrum aufweist. Mindestens sechs Dimensionen lassen sich unter-
scheiden:
Erstens meint „Fall" Einzelfall, Anwendungsfall. Dabei ist zu beachten,
dass N. im Unterschied zu NL 1888, KSA 13, 23[2], 601, 12 f. („der Fall Baude-
laire's in Frankreich, der Fall Edgar Allan Poe's in Amerika, der Fall Wagner's
in Deutschland") „Fall" und Wagner nicht etwa mit einem Genitiv kombiniert
(wie im Englischen oder im Französischen, wo dafür grammatikalisch eine
Konstruktion mit Präposition notwendig ist), sondern „Wagner" als Apposition
im Nominativ dem „Fall" beigesellt. Dadurch ist Wagner selbst direkt zum Fall
geworden.
Zweitens weckt „Fall" die Assoziation von Untergang, Niedergang, Hinfäl-
ligkeit. In englischsprachigen Publikationstiteln wird „Fall" häufig in diesem
Sinne verwendet, berühmt z. B. in Edward Gibbons The History of the Decline
and Fall of the Roman Empire (1776-1789) oder in Edgar Allan Poes The Fall
of the House of Usher (1839/40; in der Poe-Ausgabe in N.s Bibliothek ist diese
Erzählung freilich nicht enthalten — Poe 1853-1854), seltener in deutschspra-
chigen Titeln wie in Bruno Bauers Der Fall und Untergang der neuesten Revo-
lutionen (1850). Kultureller und physiologischer Niedergang ist unter dem
Namen der decadence ein zentrales Thema von WA — einer Schrift, die man
als exemplarische Studie zu einem decadence-Einzelfall verstehen kann. Frei-
lich sind bei dieser Semantik von „Fall" Genitiv- oder präpositionale Kon-
struktionen vorherrschend; der Titel von N.s Schrift lautet nicht „Der Fall
Wagners".
Drittens führt dies zur juristisch-kriminologischen Dimension des Wortes
„Fall": Wagner ist ein casus, bei dem N. als Untersuchungsbeamter, Ankläger
und Richter gleichermaßen in Erscheinung tritt.
Viertens ist Wagner ein Fall im medizinischen Wortsinn, ein pathologischer
Fall eben, an dem sich die decadence einer ganzen Kultur zeigt. Ein von N.
verfasster Werbetext für den Verlag beschreibt WA folgendermaßen: „Die
Widerlegung W(agners), welche diese Schrift giebt, ist nicht bloß eine aestheti-
sche: sie ist vor allem eine physiologische. Nietzsche betrachtet Wagner als
eine Krankheit, als eine öffentliche Gefahr." (NL 1888, KSA 13, 16[80], 513, 24-
 
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