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Sommer, Andreas Urs; Nietzsche, Friedrich; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Contr.]
Historischer und kritischer Kommentar zu Friedrich Nietzsches Werken (Band 6,1): Kommentar zu Nietzsches "Der Fall Wagner", "Götzen-Dämmerung" — Berlin, Boston: De Gruyter, 2012

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https://doi.org/10.11588/diglit.70913#0043
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24 Der Fall Wagner

27) In WA Epilog dient die Vivisektion des „Falls" Wagner ausdrücklich einer
„Diagnostik der modernen Seele" (KSA 6, 53, 6-10).
Fünftens ist auch der theologisch-moralische Assoziationsspielraum von
„Fall" ziemlich groß: Der Sündenfall, von dem die Bibel in Genesis 3 erzählt,
und der moralische „Fall", nämlich die sexuelle ,Versündigung', spielen eben-
falls in N.s Titelformulierung hinein: „Der Künstler ist vielleicht seiner Art nach
mit Nothwendigkeit ein sinnlicher Mensch [...]. Hier zu unterliegen, hier sich
zu verschwenden ist für einen Künstler verrätherisch: es verräth den Mangel
an Instinkt, an Wille überhaupt, es kann ein Zeichen von decadence sein, —
es entwerthet jedenfalls bis zu einem unausrechenbaren Grade seine Kunst.
Ich nehme den unangenehmsten Fall, den Fall Wagner. — Wagner, im Banne
jener unglaubwürdig krankhaften Sexualität, die der Fluch seines Lebens war,
wußte nur zu gut, was ein Künstler damit einbüßt, daß er vor sich die Freiheit,
die Achtung verliert. [...] Ein solcher ,Unfreier' hat eine Haschisch-Welt
nöthig, fremde, schwere, einhüllende Dünste, alle Art Exotismus und Symbo-
lismus des Ideals, nur um seine Realität einmal loszusein, — er hat Wagner-
sche Musik nöthig... Eine gewisse Katholicität des Ideals vor Allem ist bei
einem Künstler beinahe der Beweis von Selbstverachtung, von ,Sumpf': der
Fall Baudelaire's in Frankreich, der Fall Edgar Allan Poe's in Amerika, der Fall
Wagner's in Deutschland." (NL 1888, KSA 13, 23[2], 600, 16-601, 13, vgl. eine
wahrscheinlich frühere Variante derselben Passage in KGW IX 7, W II 4, 19 u.
21).
Sechstens schließlich, in negativer Korrelation zum Sündenfall, kann Fall
auch „Glücksfall" bedeuten, nämlich insofern der analysierte Einzelfall am
Ende zu einer Therapie, einer neuen Selbstvergewisserung der Kultur führt.
Entsprechend schließt WA Epilog: „Der Fall Wagner ist für den Philosophen
ein Glücksfall, — diese Schrift ist, man hört es, von der Dankbarkeit
inspirirt..." (KSA 6, 53, 10-12) Die Wahl des vielsagenden Titels Der Fall Wag-
ner — im Unterschied zu vielen anderen Schriften N.s haben sich zumindest
im Nachlass keine Alternativtitel erhalten — dürfte auch mit einer Hauptquelle
für N.s decadence-Kritik in WA zusammenhängen, nämlich mit Paul Bourgets
Nouveaux essais de psychologie contemporaine. Bourget hat eine sichtliche Vor-
liebe für die Wendung „le cas de...", und zwar oft in der Absicht kritischer
Bloßstellung, vgl. z. B. Bourget 1883, 28: „En revanche, si le Moraliste n'est pas
pretre, il est parfois auteur dramatique; c'est le cas de M. Dumas"; ebd., 138:
„II a simplement, et des le debut, pousse ä leur extreme quelques etats de
Tarne dont le plein developpement n'apparait que dans la generation suivante.
Ce fut le cas de Stendhal, qui outra tout de suite le sens d'analyse et de cosmo-
politisme propre ä notre äge." (Erster Satz von N. am Rand markiert, von ihm
Unterstrichenes kursiviert. „Wenn der Moralist hingegen kein Priester ist, so
 
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