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Sommer, Andreas Urs; Nietzsche, Friedrich; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Contr.]
Historischer und kritischer Kommentar zu Friedrich Nietzsches Werken (Band 6,1): Kommentar zu Nietzsches "Der Fall Wagner", "Götzen-Dämmerung" — Berlin, Boston: De Gruyter, 2012

DOI Page / Citation link: 
https://doi.org/10.11588/diglit.70913#0051
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32 Der Fall Wagner

dings nicht daran, dem Philosophen fast im gleichen Atemzug eine wichtige
Funktion in seiner Zeit, seiner Gegenwart zuzuweisen: „Er hat das schlechte
Gewissen seiner Zeit zu sein" (12, 21 f.).
11, 16 Strauss] Altertümliches Synonym für „Kampf".
11, 17-20 Wohlan! Ich bin so gut wie Wagner das Kind dieser Zeit, will sagen
ein decadent: nur dass ich das begriff, nur dass ich mich dagegen wehrte. Der
Philosoph in mir wehrte sich dagegen.] Der Anspruch, in sich selbst die zeittypi-
sche Dekadenz (dazu NK 11, 21 f.) zu überwinden, bestimmt N.s Selbstdeutung
in Ecce homo: „Abgerechnet nämlich, dass ich ein decadent bin, bin ich auch
dessen Gegensatz." (EH Warum ich so weise bin 2, KSA 6, 266, 15 f., vgl. EH
Warum ich so weise bin 1, KSA 6, 264, 3-11) „Der Philosoph", als der sich N.
gegen die decadence wehrt, ist offenkundig als „Philosoph" — weil zeitlos oder
überzeitlich — nicht von der decadence behelligt. Demgegenüber sollte N. bald
in Götzen-Dämmerung mit der Exposition des „Problems des Sokrates" (KSA 6,
67-73) nicht nur diesen exemplarischen griechischen Philosophen, sondern
die Philosophie insgesamt unter Dekadenzverdacht stellen. Die in WA Vorwort
propagierte Philosophie unterscheidet sich anscheinend grundlegend von
allem, was bisher Philosophie hieß.
11, 21 f. Was mich am tiefsten beschäftigt hat, das ist in der That das Problem
der decadence] Zu den spezifischen Hintergründen des inflationären
Gebrauchs, den N. von Worten aus dem Umfeld von decadence und decadent
macht, vgl. NK KSA 6, 67, 18 und 71, 14. Begriffsgeschichtlich lässt sich N.s
decadence dreifach fassen: Erstens wird der Ausdruck seit Boileau, Montes-
quieu und Gibbon mit mehr oder weniger stark moralischer Konnotation für
den Verfall des Römischen Reiches (in N.s Bibliothek ist Montesquieu 1836
dafür einschlägig) und — etwa bei Bossuet — für den Zustand der Gegenwart
verwendet. Zweitens ist decadence die Selbstprädikation einer künstlerischen
Bewegung um Charles Baudelaire und Paul Verlaine, die die Negation bürgerli-
cher Werte und das Ausbrechen aus dem bürgerlichen Normgefüge zum Pro-
gramm erhoben hat („epater le bourgeois"). Ihre Zeitschrift, Le decadent,
erschien zwischen 1886 und 1889. Die literarische decadence-Bewegung fand
N. beispielsweise in Paul Bourgets (Nouveaux) Essais de psychologie contempo-
raine dokumentiert. Drittens ist der physiologische Gebrauch der Vokabel im
Sinne von Degenerescenz auch schon unter N.s naturwissenschaftlichen und
medizinischen Zeitgenossen verbreitet, vgl. NK KSA 6, 71, 14.
Bei N. selber wird eine ästhetische Wortverwendung mit einer historischen,
einer moralisch-außermoralischen, einer zeitkritischen und einer physiolo-
gisch-biologischen verbunden: Decadence meint sowohl den zyklisch unab-
wendbaren physischen Niedergang der menschlichen Spezies und ihrer Indivi-
 
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